: Belichtungszeit: 22 Minuten
■ Rosige Leichen und Artisten im Flug: Die ersten 60 Jahre der spanischen Fotografie in einer wunderbaren Ausstellung
hierhin bitte
den Priester
Gebannt von Alguacil: Clérigo toledano (1865)
November 1839. El Diario, die Tageszeitung Barcelonas, hatte gewarnt: Bei der Demonstration sollten sich die Zuschauer im Hintergrund halten. Die Kamera banne die, die sich nicht in acht nähmen, für immer auf die Platte. Trotz stürmischen Wetters kamen die Massen. Eine Musikkapelle spielte auf. Die Stimmung war feierlich.
Am 10.November 1839 wurde in Spanien das erste Foto gemacht. Eine Daguerreotypie, nach dem französischen Erfinder so genannt, fast ein Jahr, nachdem die Erfindung in Paris bekannt geworden war. Belichtungsdauer: 22 Minuten. Die mitzuschleppende Technik inkl. Labor wog gut eine Tonne. Als Sujets dienten zwei historische Gebäude. Die fertige Daguerreotypie wurde anschließend verlost und ist verschollen.
Den ersten sechzig Jahren spanischer Fotografie widmet sich eine ungewöhnlich spannende Ausstellung, die zur Zeit in der Villa Ichon zu sehen ist: „Las fuentes de la memoria — Die Quellen der Erinnerung“. Der hohe Rang dieser Präsentation erklärt sich leicht: Sie wurde vom spanischen Außenministerium anläßlich der Frankfurter Buchmesse '91 für das Rahmenprogramm — Schwerpunkt: spanische Literatur — realisiert. Knapp 100 Fotografien von 50 Fotografen, Amateuren wie Profis, Spaniern wie Ausländern, sind zu sehen. Zusammen mit einem wunderschönen Katalog geben sie einen anrührenden Eindruck vom Spanien des 19.Jahrhunderts.
Die frühe spanische Fotografie war übrigens nur in einem geringen Umfang spanisch. Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit, schleppende technische Entwicklung und andauernde interne Querelen ließen eine nennenswerte inländische Fotografie
„Portraits Verstorbener in ihren Wohnungen, Position auf Wunsch, lebendig wirkende Bilder!“
kaum entstehen. Viele der Aufnahmen, die uns von Krieg, Arbeit, Dorfleben, Stadtkultur und Industrialisierung erzählen, stammen von britischen Ingenieuren, französischen Textilvertretern und deutschen Romantikern. Galt doch Spanien in frühromantischer Einschätzung als letzte orientalische Festung in einer zunehmend industrialisierten Welt.
Die Spanier, die sich aufs neue Medium warfen, waren sehr oft Zeichner wie der berühmte Francisco Javier Parcerissa: Die Porträtfotografie hatte sie arbeitslos gemacht. Entsprechend künstlerisch komponiert und exquisit ausgeführt waren dann auch die ersten Fotos — sie kosteten so viel, wie ein Landarbeiter in einem Monat verdiente.
Porträt, Landschaft, Architektur, Dokumentation von Brücken- oder Kanalbau: Das waren die klassischen und die anwendungsorientierten Sujets. Glücksfälle und bereits Zeugnisse davon, daß mit dem neuen Medium experimentiert wird, sind weniger oder gar nicht gestellte Szenen „aus dem Leben“. Marktrummel, Artisten im Flug, Wäscherinnen, eine Hafenszene. In vielen Fällen frappiert, wie überaus scharf die Abbildungen sind (bei den Belichtungszeiten!), kleinste Details in großer Entfernung lassen sich erkennen; Ausschnitt, Licht, Komposition - Meister sind dabei wie Nadar, Levy, Rodrigo, Laurent und der britische Ingenieur Charles Clifford.
In den 60ern explodierte das Medium mit der Erfindung billigerer, leichterer Techniken, die zu kleineren Formaten und unbegrenzt vielen Abzügen führten — eine Daguerreotypie war immer ein Unikat gewesen. Königin Isabell II. hing bald über jedem Sofa. Jetzt konnte sich auch der Kleinbürger „unsterblich“ machen lassen, und er tat es mit Wonne. Überall schossen Porträt-Studios aus der Erde mit all den Kulissen und dem Plunder, mit denen der Adel eingeholt werden sollte: Säulchen, Fransen, Schoßhunde aus Pappe, Boote ... Doch durch all die Staffage meint man doch ein Stück ins Herz der Porträtierten sehen zu können — das gilt auch für die Soldaten, Tagelöhner, Schäfer, Dorffrauen und Bettler: Man spürt den Ernst, die Überraschung, die Würde angesichts des Hauchs von Ewigkeit, der von der Fotografie
hierhin das Foto mit vielen
Menschen unter einer
Bogenbrücke
Unter einem Aquädukt, fotografiert von L. Levy: Salida de la diligencia bajo el acueducto romano de Segovia (1885) Fotos: Katalog
(noch) ausging. Nach oft stundenlangem Modellstehen war ja dann auch der Moment der Aufnahme ein besonders feierlicher, intensiv erlebter. Ausdrucksstarke und dichte Bilder entstanden, die wir vielleicht noch von Porträts unserer Urgroßmütter kennen oder jenen wunderbaren Belegschaftsaufnahmen mittlerer und kleinerer Firmen im letzten Jahrhundert.
Daß die Aktfotografie im katholischen Spanien keine Rolle spielt — sieht man einmal vm Erotika-Import aus Paris ab — wundert nicht. Ein ganz bizarres Thema streift die Ausstellung
aber noch: die Ablichtung Verstorbener. „Porträts Verstorbener in ihren Wohnungen, Position nach Wunsch, Garantie für lebendig wirkende Bilder“: so warben die Profis damals. Die Toten sehen grundsätzlich rosig und wie schlafend aus. Die besonders hohe Kindersterblichkeit der Zeit führte zu großer Nachfrage. In keinem anderen Fall tritt die Magie des Lichtbildes so deutlich hervor, die Vorstellung, daß Ewigkeit (das Foto) stärker als der Tod sein könnte. Man darf nicht vergessen, daß die Fotografen damals noch oft als Zauberer und Hexenmeister angesehn wurden.
Allerdings bisweilen auch schon als Spione. Burkhard Straßmann
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