Warum nicht Arabisch?

■ Sprachforscher Tullio Dei Mauro über die Nicht-Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache für Europa

taz: Professor De Mauro, brauchen die geeinten Europäer eine gemeinsame Sprache?

De Mauro: Dazu muß man zuerst mal fragen, wie einig Europa denn sein wird, und das betrifft nicht nur den institutionellen und den politischen Bereich, sondern vor allem den sozialen, den alltäglichen Aspekt. Wenn wir ein völlig integriertes Europa haben wollen, das einheitliche Verhaltensweisen und Sitten aufbaut, ist die Frage leicht zu beantworten, denn dann empfiehlt sich natürlich eine gemeinsame Sprache für die große Mehrheit aller Europäer. Nur: wann werden wir dahin gelangen? Ich vermute daher zunächst einmal, daß sich das Problem weitgehend von selbst lösen wird. Der Weg zu einer solchen Einheit ist sehr lang, und das, was wir bislang an Einigem sehen, reicht auf weite Sicht nicht aus, von einer Gemeinsamkeit zu sprechen, die auch eine gemeinsame Sprache erfordern würde. Zudem gibt es zahlreiche historische und auch aktuelle Beispiele von Ländern, die ihr gesellschaftliches Leben trotz einer starken Autonomie unterschiedlicher Sprachen ganz gut bewältigen. Klassisches Beispiel dafür ist die Schweiz, aber auch nahezu der gesamte indische Subkontinent, der zahlreiche eigenständige Sprachen in einzelnen Ländern kennt. Auch China ist in gewisser Weise ein Beispiel dafür.

In den meisten dieser vielsprachigen Staaten gibt es aber einheitliche Verständigungsmittel für gewisse Bereiche.

Richtig. Und das wird auch für Europa so sein: Bestimmte Kreise, vor allem Führungsschichten, brauchen eine gemeinsame Sprache, sonst können sie ihre Aufgaben nicht erfüllen. Das gilt nicht nur für politische Führer oder für Intellektuelle, die ihre wissenschaftlichen Arbeiten nur unter Verwendung ausländischer Vorlagen durchführen können, sondern auch und vor allem für die Wirtschaft, die heute nicht mehr auf nationale Grenzen beschränkt sein kann und daher internationale Verständigungsmittel braucht.

Setzen sich derlei gemeinsame Sprachen gemeinhin von selbst durch oder müssen sie aufgezwungen werden?

Die Geschichte ist reich an Beispielen, wo der Versuch, eine gemeinsame Sprache mehr oder minder zwangsweise einzuführen oder von bestimmten Schichten auf ganze Völker zu übertragen, eher zum Bumerang wurde. Ein eklatantes Beispiel ist das Französisch: das war im 17., 18. Jahrhundert die Sprache der Gebildeten in nahezu ganz Europa. Doch als die Franzosen ihre Sprache dann im Zuge ihres Imperialismus auch den unterworfenen Völkern insgesamt aufzuzwingen begannen, führte dies zum genauen Gegenteil des Erwünschten — die Leute begannen sich nun immer zäher an ihre eigene Sprache, ja an ihre regionale Mundart oder den lokalen Dialekt zu klammern. In Italien führte dies geradewegs zur Wiedereinführung des sozusagen „klassischen“ Italienisch, des Florentinischen, das im 17., 18. Jahrhundert kaum mehr jemand gesprochen hatte, es war nur noch Schriftsprache. Hätte man die Sache laufen lassen, wie sie lief, wäre wohl alles anders ausgegangen.

Wie sollen sich denn nun die einzelnen Staaten verhalten?

Zunächst einmal sollten, ja müßten die einzelnen Länder ihre eigenen regionalen Sprachbesonderheiten deutlich machen, also klären, wieweit mit der bloßen Sprache auch Kulturerbe, Tradition und Lebensart verbunden ist. Natürlich löst das zunächst nicht die Wünsche derer, die zur Ausübung ihrer Tätigkeit am liebsten überall eine einheitliche Sprache hätten, also große Teile unserer wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht.

Gibt es Sprachen, die sich sozusagen „natürlich“ anbieten, wenn es ums Gemeinsame geht?

Derzeit bemerken wir einen starken Druck, neben das durch die traditionelle Hegemonie Großbritanniens im wirtschaftlichen Bereich weitverbreitete Englisch und neben das Diplomaten-Französisch auch das Deutsche zu setzen, schließlich spricht nahezu ein Viertel aller Europäer die Sprache schon von Kindesbeinen an. Ich sehe aber bald ein anderes Problem: Wenn die demographischen Prophezeihungen recht haben, werden wir in 30 Jahren bis zu einem Drittel Menschen aus arabischen Ländern bei uns haben — nicht auszuschließen, daß alle Sprach- Voraussagen und -planungen dadurch zur Makulatur werden und wir dann vor dem Problem einer Integration starker arabischer Elemente in unsere Sprache stehen werden.

Interview: Werner Raith

De Mauro, 59, ist Professor für Linguistik und italienische Sprache an der Universität Rom. In seinem Buch „L'Italia delle Italie“ (Das Italien der Italien) zeichnete er die Eigenentwicklung von Subidiomen unter der Herrschaft einer Nationalsprache nach.