: Jelzin übernimmt die Doktrin des „Nord-Süd-Konflikts“
Auch nach den neuen Abrüstungsankündigungen behalten die USA ihre Fähigkeit zum mehrfachen Overkill/ Neue Waffen gegen den atomaren Islam ■ Von Andreas Zumach
Schon die Abrüstungsvorschläge und -ankündigungen der Präsidenten Bush und Gorbatschow vom Herbst letzten Jahres versprachen über das START-Abkommen hinausgehende tiefe numerische Einschnitte bei den strategischen Atomwaffenarsenalen beider Seiten. Die jüngsten Erklärungen von Bush und Gorbatschows Rechtsnachfolger Jelzin gehen noch darüber hinaus (s. oben).
Doch trotz der zwischenzeitlichen Auflösung der Sowjetunion verbleiben auch diese Initiativen vor allem auf US-Seite hinsichtlich der Struktur der strategischen Arsenale weitgehend in alten Mustern. Eine vollständige Abschaffung atomarer Waffen ist von Washington auch langfristig nicht beabsichtigt.
Unabhängig davon, ob die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe nach Bushs Vorschlag von derzeit 12.000 auf US- und 11.000 auf GUS- Seite auf jeweils 4.500 bis 5.000 reduziert wird oder, wie von Jelzin gefordert, auf 2.000 bis 2.500: der atomare Overkill, also die Fähigkeit zur mehrfachen gegenseitigen und damit weltweiten Vernichtung bliebe erhalten. Auch 2.000 Sprengköpfe wären noch immer fünfmal so viele wie die 400, die der ehemalige US-Verteidigungsminister McNamara vor 30 Jahren als „ausreichend“ für eine gesicherte gegenseitige Abschreckung bezeichnete.
Ähnlich wie sämtliche Vorschläge Washingtons an den Genfer SALT-und START-Verhandlungstischen seit 1970 zielt auch Bushs neueste Initiative vor allem auf die vollständige Beseitigung der in den USA besonders gefürchteten schweren landstationierten Raketen in den vier GUS-Staaten Rußland, Weißrußland, Ukraine und Kasachstan ab. Die eigenen strategischen See- und Luftstreitkräfte, bei denen die USA weit überlegen sind, will Bush zwar verringern bzw. ihren Ausbau verlangsamen. Doch unter dem Strich soll es bei der Überlegenheit bleiben — vor allem mittels der see- und luftgestützten Marschflugkörper. Entsprechend verweigerte Jelzin in seiner Antwort auf Bush den völligen Verzicht auf die eigenen landgestützten Arsenale mit Mehrfachsprengköpfen und schlug statt dessen die vollständige Verschrottung seegestützter Marschflugkörper auf beiden Seiten vor.
Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Vorschlägen beider Seiten liegt in der — schon von Gorbatschow im letzten Herbst erhobenen — Forderung Jelzins nach weiterer Begrenzung der Atomwaffentests mit dem Ziel ihrer vollständigen Einstellung. Washington hat dies erneut abgelehnt, ebenso wie Jelzins Forderung, langfristig Atomwaffen weltweit vollständig abzuschaffen. Auf den Vorschlag des russischen Präsidenten, die Atomwaffen aller Staaten sowie ihre Vernichtung schrittweise einer internationalen Kontrolle zu unterwerfen, ist Washington bisher nicht eingegangen.
Besonders Washingtons Weigerung zur Einstellung der Atomwaffentests wirft die Frage auf, ob die Bush-Administration — wie in den vergangenen zwei Wochen mehrfach berichtet wurde — tatsächlich sämtliche Neuentwicklungen von Atomsprengköpfen einstellen werden. In seiner Rede vor dem Kongreß kündigte Bush in diesem Zusammenhang lediglich die Einstellung des Sprengkopfes W-88 für die U-Boot- gestützten „Trident“-Raketen an. Das ist zwar die einzige Sprengkopfentwicklung, die derzeit im öffentlichen Teil des Pentagon-Haushaltes enthalten ist. Daneben gibt es jedoch geheime „Black Box“-Programme. Unter einem dieser Programme wurde zumindest bislang ein neuer Atomsprengkopf für flugzeuggestützte Abstandsraketen (TASM) entwickelt. Nach zumindest bisher noch nicht offiziell aufgegebenen Planungen von Pentagon und Nato sollten mit diesen Abstandsraketen nach 1995 Kampfflugzeuge in Westeuropa ausgerüstet werden, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Demokraten im US-Kongreß werden — nach ihren Reaktionen der letzten Tage zu urteilen — den Bush- Ankündigungen keine eigenen, von der sicherheits- und militärpolitischen Substanz her unterschiedlichen Vorschläge entgegenstellen. Nach dem Motto „zu wenig und zu spät“ dürften sie lediglich geringere Stückzahlen bei einzelnen Waffensystemen sowie eine stärkere Reduzierung der US-Truppen fordern, um sich über die von Bush für den Zeitraum bis 1997 in Aussicht gestellten Einsparungen von 50 Milliarden Dollar hinaus als die besseren Kürzer des Pentagon-Budgets zugunsten anderer Haushalte zu profilieren.
Fraglich ist sogar, ob die Demokraten den Präsidenten beim Thema „Einstellung der A-Waffen-Tests“ ernsthaft in Bedrängnis bringen werden. Denn das Pentagon begründet die Notwendigkeit dieser Tests auch mit dem einst von Bush-Vorgänger Reagan initiierten Rüstungsprogramm zur Raketenabwehr. Vor zwei Jahren hätte der Kongreß mit seiner demokratischen Mehrheit dieses Programm beinahe völlig gestrichen. Doch Bush ist es seitdem gelungen, die politische Unterstützung für ein Raketenabwehrsystem wieder deutlich zu erhöhen. Das gelang mit der Ummodelung von Reagans ursprünglicher Idee von einem Abwehrschirm im Weltraum zur Zerstörung gegnerischer Interkontinentalraketen (SDI) hin zu einem zumindest in seiner ersten Phase bodengestützten System gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen (GLBPS).
Die Begründung für die Notwendigkeit dieses Systems — die drohende Aufrüstung von Staaten des Südens mit derartigen Raketen — stößt vor allem seit dem Golfkrieg in der US-amerikanischen Öffentlichkeit kaum noch auf Widerspruch. Wer dennoch Bedenken äußerte, ist seit dem Zerfall der Sowjetunion noch mehr in die Defensive geraten.
Der Verweis auf die Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen- und Raketentechnologie aus den GUS- Staaten in den Iran oder andere islamische Staaten südöstlich der eigenen Grenzen hat jetzt auch Jelzin zu einem bemerkenswerten Schwenk veranlaßt. Zwar machte er die „gemeinsame Entwicklung eines globalen Abwehrsystems“ davon abhängig, daß die USA das SDI/GLBPS- Programm aufgeben. Damit hat sich Jelzin jedoch im Prinzip auf Washingtons Szenario von der neuen Süd-Nord-Bedrohung nach Ende der Ost-West-Konfrontation eingelassen und auf die Forderung, auf diese „Bedrohung“ mit gemeinsamen militärischen Vorbeugemaßnahmen zu reagieren. Trotz aller Unterstützung für die US-Politik während der Golfkrise war Gorbatschow zu einem so weitgehenden, grundsätzlichen Schritt bis zuletzt nicht bereit.
Wegen der nicht vorhandenen wirtschaftlichen Ressourcen in den GUS-Staaten und angesichts ihrer technologischen Überlegenheit dürften die USA ein solches gemeinsames Programm, sollte es dazu kommen, de facto weitgehend allein bestimmen. Bush wird die prinzipielle Bereitschaftserklärung Jelzins bei den Haushaltsberatungen der kommenden Wochen zu nutzen wissen, um die von ihm geforderte Erhöhung der SDI/GLBPS-Mittel von 4,3 Milliarden auf 5,4 Milliarden Dollar durchzusetzen.
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