Ausgewogen bis zur Indifferenz

■ »Berliner Porträts« von Ursula Kelm breiten in der Kommunalen Galerie Friedrichshain einen beliebigen Bilderbogen Berliner Prominenz aus

Kaum einer fehlt, der Rang oder Namen hat, von Sascha Anderson bis Heinrich Lummer, von Bernhard Minetti bis Helmut Newton sind sie alle vertreten, die Stars der Szene, die bekannten Köpfe und die aus den Medien vertrauten Gesichter aus Politik, Kunst und Intelligenzija. Ursula Kelms »Berliner Porträts« präsentieren sich wie ein optisches Who's Who der Berliner kulturellen Elite. Aber leider kennen wir die Personen alle nur zu gut. Das Motiv — es bietet also nichts Neues, und auch die Aufnahmen vermögen nicht zu überraschen oder zu verblüffen. Ursula Kelm macht bei jeder Aufnahme alles richtig, macht das, was man von ihr als Lehrerin für Fotografie an der Volkshochschule (sie lehrt an der VHS Kreuzberg) erwarten würde und gerade deshalb fehlt den Fotos etwas.

Je länger man in dieser Ausstellung bleibt, desto mehr geraten die Fotografien zur Nebensache. Die jedem Foto beigegebenen Autographen der Abgebildeten erweisen dem Anliegen der Fotografin, mehr über den Menschen zu liefern als sein bloßes fotografisches Porträt, einen Bärendienst. In jedem Fall aber stehen hier die Kategorien des Physiognomen und des Graphologen bei der Betrachtung in heftiger Konkurrenz. Was zeigt mehr vom Menschen, seine äußere Erscheinung oder sein schriftlicher Ausdruck?

Die Personen treten in den Fotos stehend oder sitzend auf, mal als Ganz-, meist aber als Halbkörperbild oder als Kopf — und fast immer zu Hause. Dabei geben sie sich der Fotografin gegenüber »ganz normal«, eben so, wie wir sie alle aus der Öffentlichkeit oder aus den veröffentlichten Bildern kennen. Merkwürdigerweise nur die Schauspieler, Jutta Lampe oder Udo Samel, können dem Bild mehr geben als ein »public image«. Bei beiden schweift der Blick ins Leere, so als ob sie allein und unbeobachtet wären. Aber gerade das ist gekonnt gespielt. Denn ausgerechnet da, wo man glaubt, zum Voyeur geworden zu sein, ist alles nur gespielt.

Ursula Kelms Aufnahmen sind ohne mitgebrachte Scheinwerfer oder sonstigen inszenatorischen Aufwand fotografiert. Scheinbar wie im Gespräch sind die Bilder entstanden, mit der üblichen mittleren Telebrennweite (damit es keine großen Nasen gibt) und im üblichen Kleinbildformat. Auch die Schwarzweißabzüge sind weder abgründig schwarz noch blendend weiß, sondern — so scheint es — ausgewogen bis zur Indifferenz, konservativ und betulich.

Was den Fotos abgeht, liefern die Abgebildeten selbst: eine persönliche Handschrift. Die neben die Fotos gehängten, faksimilierten Textproben reichen von der bloßen Unterschrift, so bei Dieter Honisch, dem offensichtlich nichts einfiel, bis zur seitenlangen Reflexion über die Beziehungsgeschichte der deutschen Staaten, die Sebastian Haffner in seiner winzigen Schrift beisteuerte. Manch einer zitiert Dichter. Otto Schily schreibt etwas aus Warten auf Godot — in Französisch. Da fragt man sich, ist das bloß Eitelkeit, ist es womöglich philologische Akkuratesse, oder hatte er etwa nur das französische Original zur Hand?

Die handschriftliche Probe stellt entschieden mehr Fragen als der konventionelle Blick auf die Physiognomie. Man entdeckt Korrespondenzen zwischen Schrift und Ab-Bild und bemerkt, daß die Schrift das Aussehen seines Autors eigentlich nur bestätigen kann. Rolf Eden, der Nachtclubbesitzer, sieht nicht nur so aus, wie man sich einen Nachtclubbesitzer vorstellt, er bedient das Klischee auch noch durch das Motto »Das Leben — ein einziges Fest«. Und Lotti Hubers Unterschrift entspricht mit ihren Schnörkeln allen Erwartungen an einen exaltierten Charakter. Der Handschrift gelingt es denn auch, was den Fotos zumeist fehlt; sie erlaubt den Einblick ins Private, was normalerweise — sollten wir nicht gerade das Glück haben, mit Willy Brandt oder Eberhard Roters zu korrespondieren — dem normalen Mediennutzer verborgen bleibt. Tatsächlich ist die Handschrift im Gegensatz zum öffentlichen Gesicht, den talking heads der Fernsehprominenz mit ihrer allgegenwärtigen Telepräsenz mittlerweile etwas sehr Intimes geworden. Sie tritt öffentlich so gut wie nie in Erscheinung. Wer kennt nicht Walter Mompers Gesicht, das eben auch bei Ursula Kelm nicht viel anders aussieht als im Fernsehen. Wer aber kennt schon seine Handschrift?

Gerade hierin schlägt die Schrift die Bilder. Das Unerhörte oder, besser, das Übergesehene und das Fesselnde, ist nicht das, was das Licht vom Körper in der Foto-grafie (graphein = schreiben) abschreibt oder abzeichnet, sondern das, was der Körper selbst durch die Hand aufschreibt.

Ronald Berg