Alles ehrliche Harmlosigkeit

Nur ein Film hatte beim Saarbrücker Max-Ophüls-Wettbewerb keine Angst vorm Fliegen  ■ Von Anja Seeliger

Der Held will sich gerade seinem Frühstücksei widmen. Eine stille Aura von Wohlbefinden umgibt ihn: Die Freundin wird gleich ins Büro abmarschieren und vor ihm liegt ein langer, fauler, sonniger Tag. Von wegen. Noch vor dem ersten Bissen wedelt sie mit der Zeitung vor seinem Gesicht und verweist mit Nachdruck auf vorsorglich angekreuzte Stellenanzeigen. Freispiel heißt der Film.

„Man muß auch was tun“, und „wenn du dich nicht entscheidest, entscheiden andere für dich“: Auf den Filmfestspielen in Saarbrücken wurden etliche Filmhelden mit der Forderung nach mehr „Eigeninitiative“ belästigt: „Halte dich an die Regeln und mach einen Umschulungskurs.“ Entscheidungen werden eingefordert. Viele Filme erzählten von der Unlust, Entscheidungen zu treffen.

Die Unentschlossenheit und Unlust an Veränderungen zeigte sich am drastischsten in Vadim Glownas Eines Tages irgendwann. Die Protagonistin hält mit deprimierender Sturheit an trostlosen Plichterfüllungsübungen fest. Ein öder Job als Sortiererin bei der Post: Sie ist penetrant die Schnellste. Ein öder Besuch bei den Schwiegereltern in spe: „Zieh dich um, wir müssen zu deinen Eltern“, treibt sie ihren Freund an, mit einem Gesicht, das die Milch sauer werden läßt. Eine öde Beziehung in einer trostlosen Wohnung: Sie verläßt ihn erst, als sie den nächsten Langweiler mit einer trostlosen Wohnung an der Angel hat. Mit verkniffenem Gesicht besteht sie auf ihr mausgraues Leben und auch die sexuellen Eskapaden ihres Freundes sind für den Zuschauer keine Erholung. Glowna besteht darauf, daß Leichtfertigkeit genauso deprimierend ist, wie ein vorgeschriebenes Leben. Nach dem Film fühlt man sich so bleischwer, als hätte man zehn Jahre bei der Post hinter sich.

Es gibt einen Unterschied zwischen Autorenfilmen und einfach nur guten Plots: Autorenfilme setzen eine persönliche Meinung des Regisseurs zu seinem Thema voraus. Für eine gute Geschichte genügt eine mögliche Haltung (Karriere, Liebe, Rebellion sei mein Weg), und dann sieht man zu, wo sie den Helden hinführt. Selbst das war in Saarbrücken die Ausnahme. Mit den Regeln spielen oder gegen sie? Erwogen wurde das ausschließlich unter praktischen Gesichtspunkten für das eigene private Leben. In Freispiel von Friedmann Fromm schlawinern sich zwei Freunde mit Taschendiebstählen durchs Leben. Die Außenseiterrolle ist nicht notwendig, da einer der beiden eine Freundin hat, die fleißig verdient. Zentralheizung, Badezimmer, ein warmes Bett und ein gefüllter Kühlschrank stehen immer bereit. Sie ist aber auch kein Ausdruck des Protestes aus einer politischen oder persönlichen Einstellung heraus. Nur ein diffuses Unbehagen, sich irgendwie festzulegen.

Liebe ist auch kein Thema, bei dem sich aufzuhalten lohnt: „Vielleicht wäre es gut, wenn du neben der Galerie mehr Eigeninitiative entwickeln würdest. Dann würdest du besser verstehen, wenn ich mal keine Zeit habe“, sagt in Sprung aus den Wolken von Stefan Schwietert ein junger Mann streng zu seiner Freundin, die ihn schließlich verläßt. Womit sie, laut Pressetext, „zur Selbständigkeit“ findet. Kalter Kaffee. Sie hat eine Affäre und das war schon immer das sicherste Mittel, sich wieder zu verselbständigen. Die Weigerung, sich langweilen zu lassen, ist nicht gerade ein überwältigender Hinweis auf Selbständigkeit.

Man kokettiert mit der Liebe und ziert sich beim Erwachsenwerden, ohne die Notwendigkeit jemals in Frage zu stellen. Mittelklassekinder tändeln mit ihrem Leben, als sei's ein Film, aus dem sie jederzeit wieder aussteigen können. Doch in ihrer Unentschlossenheit sind die Personen häufig treffend gezeichnet: Kein falsches Drama, alles ehrliche Harmlosigkeit. So bleibt viel Raum für komische Einfälle und lustige Dialoge, was des öfteren an amerikanische screwball-comedies erinnert.

In Freiflug gibt es ein lehrreiches Beispiel für die gelungene Ausschaltung eines Nebenbuhlers. Sie findet auf dem Klo statt. Ein geschniegelter Aufreißer steht vor dem Pissoir, da sieht er sich schon von den beiden Helden eingekreist: Einer rechts, einer links von ihm. Kamera auf den Gesichtern. Prüfende Blicke nach unten. Stille. Dann hört man es langsam plätschern. Ein zweites Plätschern kommt dazu. „Erster“, sagt der Linke. „Zweiter“, der Rechte. Akute Pinkelhemmung beim Dritten.

In Marcel Gislers Blauer Stunde trifft ein junger Mann, der hauptberuflich als Callboy arbeitet, in der Kneipe einen Bekannten und nimmt ihn mit nach Hause. Was folgt, ist die haargenaue Kopie der Verführung einer Ehefrau. Das schlechte Gewissen: „Ich bin verheiratet.“ Die Ziererei: „Vielleicht sollte ich gehen“, um Sekunden später dem Verführer mit unangebrachter Heftigkeit um den Hals zu fallen. Die Peinlichkeit von Sentimentalitäten nach einem one-night-stand: „Weißt du, wie du aussiehst, wenn du schläfst?“ Der Ehemann probiert es nochmal und wird abgewimmelt. Die Dialoge sind so banal wie in der Realität. Und genauso wahr. Der „Preis des Saarländischen Ministerpräsidenten“ wurde der Blauen Stunde zurecht zuerkannt.

Sobald jemand eine Vorstellung von sich und seinem Leben hat, stellt sich die Frage, ob er damit durchkommt oder nicht. Das ist der simpelste Trick, für Spannung und einen interessanten Helden zu sorgen. Aber nur Dany Levy und Dietmar Klein wenden ihn an. Klein beschreibt in seinem Erdnußmann, für den er den „Max-Ophüls-Preis“ bekam, Aufstieg und Fall des Plakatklebers Eddy Stresow in der Wunderwelt der Werbung. Durch Zufall gerät Eddy in ein Casting für den gesuchten Erdnußmann Shaky. Vierzig Bewerber mußten bereits vor die Kamera treten, eine Nußpackung schütteln und dies mit den Worten unterstreichen: „Schüttel die Nuß.“ Vor Anstrengung verzerrte Gesichter bei den Bewerbern, Eddy schafft es mit Unschuld. „Schüttel die Nuß“, sagt er mit ungläubigem Erstaunen. Seine Unfähigkeit, die Sache ernst zu nehmen, endet schlagartig, als er den Job bekommt.

In Levys I was on Mars kommt eine Polin nach New York. Sie spricht kein Wort Englisch, so daß die erste Hälfte des Films fast ein Stummfilm ist. Levy hat die Amerikaner nicht synchronisiert, und da sitzt man nun. In der Fremde mit dieser Fremden. Nichts weiß man von ihr, wenig erfährt man. Nur eins wird schnell klar: Diese unwirsche junge Frau ist felsenfest entschlossen, sich von keinem New Yorker übers Ohr hauen zu lassen. Natürlich wird sie doch beklaut, findet den Dieb, heftet sich an seine Fersen, bis er und sein Bruder sie quasi zwangsadoptieren müssen. Neue Frisur, neue Kleider, die Männer sind bald hinter ihr her. Aber man ahnt die ganze Zeit, daß sie kein Strandgut ist. Eine Einstellung braucht Levy für einen wunderbaren Schluß, in dem ein Foto, daß sie den Brüdern vor ihrem Rückflug zeigt, die ganze Geschichte erzählt.

Thorsten Fischer stellt sich in seinem Film Die fliegenden Kinder radikal einem Thema: der Liebe — und beweist, daß ein Film dann nicht einmal eine Geschichte braucht. Ein junger Mann trägt in einem Café wüste Gedichte vor. Dann sieht man ihn in einem Zimmer mit einem Mädchen. Eine Beischlafszene, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, obwohl man die Körper kaum je sieht. Nur ihr unbeteiligtes Gesicht. Sie sprechen über die Liebe und den Wert von Erinnerungen. „Wenn man so leicht vergißt, wird alles lächerlich“, sagt sie. Er zitiert Rimbaud. Sie will eine Spur hinterlassen: Junge Männer lieben die Pose, Frauen die Liebe. Ohne Sentimentalität. „Im Augenblick des Höhepunktes sagen zu können: Ich bin allein. Darin liegt mehr Leidenschaft, als in einer Umarmung.“ Man glaubt es ihr. Nichola Thomasoni spielt die Frau. Sie ist schön wie ein amerikanischer Filmstar aus den vierziger Jahren. Nur ohne den Optimismus einer Hepburn oder Stanwyck. „Ein Freund hat mir mal gesagt, ich sehe aus, als trüge ich ein Schild um den Hals: Fick mich und laß mich allein“, beschreibt sie sich, und das trifft es ungefähr. Nur drei Szenen: die Kneipe am Anfang, das Zimmer, der Gang zum Bäcker morgens. Als der Mann wiederkommt, steht ein Krankenwagen vor der Tür. Die Blutspur auf den Betonplatten wird die einzige Spur sein, die sie hinterläßt. „Bestimmt war sie verliebt“, sagt ein Sanitäter. „Liebende fliegen immer.“ Wenn das wahr ist, war Fischer der einzige in Saarbrücken, der keine Angst vor dem Fliegen hatte.