Krankheits-Gutachten vom Fließband

Schwere Vorwürfe gegen den Ärztlichen Dienst der Arbeitsämter/ Falsche Gutachten per Ferndiagnose  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

„Die Arbeitsämter wollen den Menschen helfen und nicht schaden.“ Die Pressestelle der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit (BfA) sieht sich zu solch einer fundamentalen Klarstellung genötigt, weil seit Wochen der Ärztliche Dienst der Arbeitsämter für Schlagzeilen sorgt. Pro Jahr würden „über 50.000 Menschen“ von „Zehntausenden von falschen Gutachten“ in materielle und psychische Not gebracht, lautet der in der jüngsten Ausgabe der Gewerkschaftszeitung 'metall‘ erhobene schwere Vorwurf. Im Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags stapeln sich die Beschwerden Betroffener, eine Flut von Gerichtsverfahren gegen diese Gutachten überschwemmt die Sozialgerichte. BfA-Präsident Heinrich Franke spricht dagegen von „bedauerlichen Einzelfällen“.

Doch im Hause Franke weiß man schon lange, daß es sich nicht um Einzelfälle handelt. Bereits im Dezember 1983 hat der Bundesrechnungshof die „unzureichende Qualität der Vertragsarztgutachten“ beanstandet. In einer vertraulichen Beratungsunterlage für die Sitzung des Vorstandsausschusses der Bundesanstalt für Planung-, Rechts- und Verwaltungsfragen (Pruva) im Juni letzten Jahres wird die Situation des Ärztlichen Dienstes als „generell diskussionsbedürftig“ eingestuft. Die für den Pruva-Ausschuß angefertigte aktuelle Analyse einer umfangreichen Gutachten-Stichprobe bescheinigt dem Ärztlichen Dienst der BfA hohe Fehlerquoten. Jeder fünfte Befund eines Vertragsarztes und jeder zehnte eines festangestellten Arbeitsamtsarztes galt demnach als „nicht ausreichend durch eigene oder fremde Befunde abgesichert“. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Gutachten im Jahr 1990 bedeutet das 50.000 mangelhafte, oberflächliche, leichtfertigte Gutachten. In der Pruva-Beratungsunterlage ist weiter vermerkt, daß 14,3 Prozent der Vertragsgutachten und 3,2 Prozent der Amtsgutachten im „Ergebnis falsch“ waren, das entspricht 35.000 im „Ergebnis falsche“ Expertisen. 1990 ließen die Arbeitsämter 360.000 Menschen ärztlich untersuchen. Davon wurden in den Gutachten 277.000 als nur noch eingeschränkt und 29.000 als gar nicht mehr vermittelbar eingestuft. 200.000 dieser medizinischen und nervenärztlichen Gutachten wurden an Fremdgutachter vergeben, den Rest der Gutachten erstellen 240 Arbeitsamtsärzte. Im Durchschnitt schafft jeder sechs Gutachten pro Tag — kein Wunder, daß da keine Zeit bleibt, sich mit dem Betroffenen intensiv auseinanderzusetzen. Oft werden die Gutachten vom Fließband nur „nach Aktenlage“ erstellt, manchmal gar ohne Wissen und gegen den Willen der Betroffenen.

Da werden dann Langzeitarbeitslosen „psychische Sperren gegen Erwerbsarbeit“ oder „Gemütsleiden mit auffälligen Verhaltensweisen (Weltverbesserungsideen)“ attestiert. Für die Betroffenen haben solche Gutachten gravierende Folgen. Sie werden zu Kranken gestempelt, fallen aus der Arbeitslosenstatistik heraus, werden Frührentner oder Sozialhilfeempfänger. Die Wege für berufliche Fortbildungen oder Umschulungen bleiben versperrt. Besonders hart hat es zum Beispiel den 56jährigen Münchner Versicherungskaufmann Lothar Kaintzyk erwischt. Fünf Nervenärzte des Ärztlichen Dienstes hatten ihm „Verfolgungswahn“ bescheinigt und eine „psychiatrisch-stationäre Behandlung“ empfohlen. Vier der fünf Ärzte hatten den Mann niemals zu Gesicht bekommen, der fünfte nahm sich höchstens zwei oder drei Minuten für ihn Zeit. Der Kaufmann wurde zwar vom Bonner Petitionsausschuß und den Gerichten voll rehabilitiert, doch er leidet noch heute an den Folgen dieses Fehlurteils, genauso wie der 42jährige Fritz Kapeller aus München. Nach Streitigkeiten am Arbeitsplatz erkrankte Kapeller und kam so in die Fänge des Ärztlichen Dienstes. Die beurteilten ihn als „schwerstgestörten, psychisch kranken Mann“, schlossen gar „gemeingefährliche Handlungen“ nicht aus und bescheinigten ihm eine „fanatische Persönlichkeit“.

Für den arbeitsmarktpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Hans Büttner aus Ingolstadt, kommt als Ursache für die Überlastung der Gutachter und die hohe Fehlerquote hauptsächlich die „restriktive Personalpolitik“ der Bundesanstalt im Bereich der Arbeitsvermittlung in Frage. In der Tat hat der Druck auf die Vermittler in den letzten Jahren rapide zugenommen. Kamen 1974 noch auf einen Vermittler 30 Arbeitssuchende, sind es heute 700. Informelle Erfolgsbilanzen, „Bundesligatabellen“ ('metall‘) sorgen für zusätzlichen Druck.