: Lob des Schuldgefühls
Der Dichter S. hat also, während er eine rebellische Künstlergruppe organisierte, die, höchst erfolgreich, noch einmal das Modell der Avantgarde in Szene setzte — unterdessen hat der Dichter für den Staatsschutz gearbeitet, der jene Gruppe unter Kontrolle zu halten wünschte und sich dabei eben jenes Dichters bediente. Vermutlich war es die Avantgarde des Staatsschutzes, die sich dies Modell, Kontrolle durch Mitmachen, ausgedacht hatte; vermutlich mußte sie es gegen die Alten Herren, die für einfache Repression, Ausbrennen den Fäulnisherd, eintraten, gegen starken Widerstand durchsetzen.
Eines Tages aber löst sich der Staat, den der Staatsschutz durch Kontrolle und Repression der Bürger schützen sollte, auf, weil die Bürger die Chance haben, ihm ein Ende zu machen; sie haben ihn nie gewollt, wie sich zeigt: Die Operationen des Staatsschutzes erscheinen plötzlich wie die einer fremden Besatzungsmacht, und wer ihm gedient hat, wird als deren Agent enttarnt.
So auch der Dichter S. Und er schlägt eine Strategie ein, die seinen Freunden und Kombattanten, ohnehin verletzt durch den Verrat, noch stärkere Schmerzen zufügt: Er leugnet alles ab. Niemals habe er als Spitzel gearbeitet; die Namen, unter denen in den Dossiers angeblich er geführt werde, bezeichnen ganz andere Personen; was er selbstverständlich zugebe: daß er stets mit Vertretern des Staatsschutzes gesprochen habe, wenn sie was von ihm wissen wollten. So entspreche es einem poetisch-philosophischen Programm: Alles verschweigen, indem man alles offenbart.
Wie der als Spitzel enttarnte Dichter S. sich aufführt, das entspricht diesem Programm freilich gerade nicht. Er leugnet einfach; und er leugnet um so hartnäckiger, als die Beweislast an Gewicht zunimmt: Das Publikum beginnt sich zu fragen — und verfolgt die Sache mit einer gewissen sadistischen Lust —, wann und wie der Dichter S. aufgeben wird. Was will er als endgültige Überführung gelten lassen?
Der Schriftsteller T., aus dem Umkreis des Dichters S. und von dessen Verhalten gründlich verwirrt, erbittet Aufklärung von dem Psychoanalytiker, der sich regelmäßig an demselben Caféhaustisch einfindet: Ob so etwas vorstellbar sei, daß einer nicht nur vor den anderen, sondern auch vor sich selbst verleugne, was er Schädliches angerichtet habe? Oder lügt er bloß?
Der Fall des Dichters S., erklärt unser Psychoanalytiker, wie immer ein wenig zerstreut, demonstriere für seine Begriffe vor allem, was man in der groben und harten Terminologie der Tradition „Verwahrlosung“ genannt habe; feiner und zartfühlender: ein defizientes Über-Ich, eine Gewissensinstanz, die es nicht bis zum endgültigen Entwicklungsstand gebracht hat. „In der neueren Theorie“, so der Psychoanalytiker, „spricht man von konventioneller und postkonventioneller Moral.“
Offensichtlich sei der Dichter S. der Maxime gefolgt: Du darfst alles tun, du darfst dich bloß nicht erwischen lassen. Zu Zeiten der DDR bestand auch keine Gefahr, daß er erwischt würde; seine Künstlergruppe und der Staatssicherheitsdienst ließen sich säuberlich auseinanderhalten; daß der Staat insgesamt verschwände, brauchte er sich nicht vorzustellen — und da haben wir das Problem: Wessen Verhalten moralisch durch Strafangst reguliert wird, der macht sich extrem abhängig von den äußeren Umständen; wenn sie sich ändern, kann es ihn erwischen. So ist es geschehen; nur die Verleugnung der Veränderung erhält den Dichter S. noch aufrecht.
Demgegenüber, so der Psychoanalytiker, wollen wir uns doch das gute alte Schuldgefühl loben, die Gewissensangst, die moralisch zulässiges Verhalten nicht erst vom Urteil der anderen — die einen erwischen oder denen man entkommt — abhängig macht, sondern schon von einer Instanz im seelischen Innenraum, bevor du überhaupt gehandelt hast. Es ist das Schuldgefühl, dem wir unsere moralische Selbständigkeit verdanken.
Zwar lebt in unserer kulturellen Mythologie unverändert das Bild des Großen Verbrechers, der jenseits von Gut und Böse seine Existenz führt, jenseits der Gesellschaft, in seinem eigenen Reich der Freiheit. Aber schon die James- Bond-Filme (die eben durch irgendeinen Fernsehkanal liefen) belehren uns über die Enge dieses Reiches; meist ist es bloß ein Südseeatoll oder ein Unterseeboot, das Innere eines erloschenen Vulkans oder ein unerreichbarer Bergesgipfel.
Man könne, so weiter unser Psychoanalytiker, die Unfreiheit, in die einen die Freiheit von Schuldgefühlen bringt, aber auch am Dichter S. studieren. Hätte er ganz am Anfang alles eingestanden und zu erklären begonnen, wie es so gekommen war, er wäre souverän und Herr der Lage und eines beträchtlichen Teils der öffentlichen Sympathie sicher gewesen. So aber hat er sich von den anderen, die ihm auf der Spur sind, komplett abhängig gemacht und kann nur noch warten, bis sie alle Beweise in der Hand haben und er aufgeben muß.
Wahrscheinlich, unterbricht der Schriftsteller T., der zu verstehen beginnt, erkennt der Dichter S. nicht an, daß es überhaupt Beweise gibt. Er wird sie stets für das Erbegnis mehr-minder geschickterer Manipulationen erklären. Dazu muß man wissen, sagt T., daß unsereins in der DDR dem Rechtssystem die Anerkennung verweigerte; Rechtsprechung, dachten wir, ist nur eine andere Form von Gewalt. Ob man unbescholten oder im Knast gewesen war, spielte keine Rolle, im Gegenteil: Knast adelte den Mann, egal, ob er aus politischen oder anderen Gründen drin war. Ich habe gesessen, so der Schriftsteller T., weil ich als Gymnasiast angeblich eine republikfeindliche Vereinigung gegründet hatte; beim DichterS. wars Scheckbetrug — der Unterschied kümmerte niemand. Während einem Dichter in der Bundesrepublik ein Gefängnisaufenthalt doch auch in seinen eigenen Kreisen kein Prestige eingebracht hätte, nicht wahr, am allerwenigsten ein Wirtschaftsvergehen.
Nur das Schuldgefühl, ich wiederhole mich, so der Psychoanalytiker, macht frei, insofern es als moralisches Wahrnehmungsorgan funktioniert, mit dem nicht erst Handlungen, sondern schon Gedanken abgetastet werden. Gewiß funktioniert einfache Strafangst als Regulativ einigermaßen, wenn sie, wie beim Kind von den Eltern, von geliebten, wenigstens geachteten Personen beziehungsweise Instanzen ausgeht. Wenn du diesen Instanzen die Anerkennung versagst, wenn sie bloß ein fremdes Gesetz verkörpern, wird die Lage natürlich besonders schwierig. Dann kann sich der DichterS. wie ein Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten aufführen oder ein Serbe in Kroatien oder ein Türke in Kurdistan; und umgekehrt.
Unser Meister Freud hat ja die These vertreten, daß wir dies Schuldgefühl dem Judentum verdanken, das sich in Abhängigkeit von dem Einen Gott begab, woraus in einem langwierigen Zivilisationsprozeß die Stimme des Gewissens sich entwickelte. (Dies, sagen manche Kulturtheoretiker, sei eine der unausreißbaren Wurzeln des Antisemitismus: Wir werden es den Juden nie verzeihen, daß wir nicht mehr als fröhliche Verbrecher frei herumlaufen dürfen.) In der 'Jerusalem Post‘ tritt regelmäßig eine Comicfigur namens „Shuldig“ auf; Woody Allen hat in seinen New-York-Filmen den Typus zum Inbegriff des modernen Großstädters erhoben.
Mag sein, daß die Installierung des Schuldgefühls als moralischer Instanz eine Art Mehltau — die Melancholie — über die Zivilisation breitet. Was wir aus anderen Kulturen, auch unser eigenen Vorzeit wissen, wo die Normenkontrolle nicht innerpsychisch, sondern sozial, von außen geübt wurde, das sollte trotzdem kein Heimweh erwecken. In allen Lebensfragen darauf angewiesen sein, was der ältere Bruder, der Vater, der Clan sagt, das ergibt kein Bild der Freiheit. Zu schweigen davon, ob man für Verfehlungen mit Vertreibung aus dem sozialen Raum, Ächtung geschlagen wird oder bloß mit einer Depression.—
Kurze Zeit nach dieser Unterhaltung wird sich der DichterS. das Leben nehmen. Das ruft, besonders stark in seinem nächsten Umkreis, aber auch darüber hinaus, Entsetzen hervor — zugleich müssen alle anerkennen, daß er dadurch seine moralische Autonomie wieder hergestellt hat, bis zur Unantastbarkeit. Man beginnt sich gründlich für den lüsternen Eifer und die Unbarmherzigkeit zu schämen, mit denen man Verfehlungen wie die seine — die nur durch einen extremen Sprung der Geschichte, die Selbstauflösung seines Staates, als Verfehlungen kenntlich geworden waren — ausspioniert, verfolgt und verurteilt hatte, wie es dann heißen wird. Michael Rutschky
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