Ralph Giordano:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Verehrter, lieber Salman Rushdie,

„Was dahinter liegt? Die Hölle!“

So warnte mich die rein „arische“ Deutsche, die meine Familie angesichts der drohenden Deportation der jüdischen Mutter bei sich versteckte, wohl wissend, daß die Entdeckung durch die Gestapo nicht nur unseren, sondern auch ihren Tod zur Folge haben würde. Sie tat es dennoch.

Die „Hölle“ — das war ein lichtloses Verlies hinter einem schmalen Durchgang, Appendix der ehemaligen Waschküche eines phosphorverglühten Hauses inmitten einer Ruinenlandschaft im Norden des zu drei Vierteln bombenzerstörten Hamburg. Die „Hölle“, das war ein Kellerloch unter Wasser, kalt, mit triefenden Wänden und in unmittelbarer Nachbarschaft von Ratten, die sich im Laufe der Zeit sichtlich an uns gewöhnten, wir aber nicht an sie und ihre immer kühneren Versuche, uns bei wachsender Schwäche anzunagen. Die „Hölle“, das war monatelange Todesangst Tag und Nacht, Finsternis, Frost, Hunger und absolutes Schweigen der Versteckten. Denn rings um die ausgebaute Waschküche unserer tapferen Wirtin hatten sich Nachbarn in die erhaltenen Souterrains der Trümmerlandschaft eingewühlt, und die durften nichts von uns wissen... Als wir fünf — Vater, Mutter, drei Söhne — schließlich aus dem Inferno hervorkrochen, am 4.Mai 1945, frühmorgens, hatten wir zwar kaum noch Ähnlichkeit mit Menschen — aber wir waren befreit.

Was ich mit dieser Erinnerung sagen will, ist erstens: daß ich zu ermessen vermag, was es heißt, sich um Leben oder Tod verstecken zu müssen. Und zweitens: daß ich mir den Unterschied vorstellen kann zwischen einer Situation, die, wie damals bei uns, Hoffnung auf ein erreichbares Ende des Schreckens zuließ, und einer anderen, die auf ein „Lebenslang“ hinauszulaufen droht — wie bei Ihnen. Ich will mich aber nicht abfinden mit einem gnädigeren Schicksalsausgang, als er Ihnen, Salman Rushdie, von Ihren Häschern zugedacht ist. Ich will einen „4.Mai“ auch für Sie, und zwar so rasch es geht.

Alles, was von uns, was von außen getan werden kann, muß zielen auf die Aufhebung jenes angeblich schlußgeschichtlich-endgültigen Urteils, das islamische Fundamentalisten unter iranischer Anführung über Sie gesprochen haben wollen. Für alle Helfer, Menschen wo auch immer auf dem Globus, an vorderster Stelle aber für uns Schriftsteller, muß die oberste Devise lauten: Sich nicht einschüchtern lassen! Wer maßt sich da die Herrschaft über Leben und Tod an? Und wer wird der nächste Betroffene sein? Die Lawine religiös etikettierter Gegenaufklärung, die der Ayatollah Khomeini losgetreten hat, kann heute oder morgen jeden lebendig begraben, der es wagt, öffentlich gegen den Ungeist der allein seligmachenden Intoleranz zu verstoßen. Unsere Freiheit, zu leben, zu denken, zu sagen und zu schreiben, was und wie wir es wollen — diese kostbarste aller Errungenschaften soll abhängig werden von Wohlverhalten gegenüber den Souffleuren des islamischen Fundamentalismus? Der hat sich längst von einem Weltärgernis zu einer Weltbedrohung ausgewachsen, und ihr muß nun, endlich, Paroli geboten werden! Natürlich ist das auch eine Forderung an die Politiker, den Primat der Menschenrechte herzustellen und den der Ökonomie zu brechen. Aufgerufen zu Ihrer Ermordung, Salman Rushdie, haben ja Repräsentanten von Regierungen, zu denen die Demokratien dieser Welt, darunter auch die deutsche, beste Verbindungen pflegen, Waffengeschäfte in Milliardenhöhe eingeschlossen. Genügen denn den Präsidenten, Kanzlern und Ministerpräsidenten der mächtigsten Staaten unseres Erdballs nicht die Ermordung des japanischen und Verletzung des italienischen Übersetzers Ihres Buches? Nicht die Tötung des türkischen Schriftstellers Turan Dursun, niedergestreckt durch sieben Pistolenkugeln? Und hat Radio Teheran dieses feige Attentat im September 1990 nicht gefeiert wie eine Siegesmeldung? „In seinen Schriften beging Turan Dursun Verrat an der heiligen islamischen Religion und schmähte den Propheten Mohamed.“ Was stimmt daran? Nichts! Unser türkischer Kollege, Publizist, Mufti und Kenner des Koran, war ein aufgeklärter Moslem und — ein Kritiker der fundamentalistischen Orthodoxie. Deshalb mußte er sterben.

„Wann“, frage ich meine, die Regierung Deutschlands, frage ich sein derzeitiges Kabinett, „wann werden Sie aktiv werden in der ,Sache Salman Rushdie‘?“ Ja, wann wird ausgeschert aus dem Staatskollektiv notorischer Passivisten, die prompt ihre Aktionsfähigkeit verlieren, sobald es um Moral geht? Die Riege der Politiker darf in der „Sache Salman Rushdie“ nicht aus den Augen verloren werden. Aber werden vor allem wir Schriftsteller auch selber in ihr mobil, leisten wir währenden Widerstand gegen den fundamentalistischen Anschlag, und widersprechen wir jenen Kleingeistern, nicht zuletzt aus der schreibenden Zunft, denen nichts einfällt als das sattsam bekannte „Man kann ja doch nichts dagegen machen...“

Wir können — mit der Kraft des Wortes!

Dazu abschließend ein kurzer historischer Exkurs.

Am 13.Oktober 1761 erhängte sich Marc Antoine Calas, Sohn des Tuchhändlers Jean Calas, auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in Toulouse. An dem Selbstmord des 28jährigen konnte es keinen Zweifel geben, auch wenn der untröstlichen Familie das Motiv ein Rätsel blieb. 1761 war das 18.Regierungsjahr Seiner Allerkatholischsten Majestät, Ludwigs XV., die Calas aber waren Hugenotten, also Anhänger des französischen Protestantismus. Der war zwar geschwächt, aber fast zwei Jahrhunderte nach der Bartholomäusnacht von 1572 immer noch eine wirtschaftlich und politisch mächtige Kraft, die von der absolutistischen Monarchie gefürchtet war. Und so wurde Jean Calas denn angeschuldigt, den eigenen Sohn getötet zu haben, um dessen beabsichtigten Übertritt zum Katholizismus zu verhindern. Wir kennen die Protokolle der hochnotpeinlichen Verhöre. Sie beweisen, daß Jean Calas unerschütterlich auf seiner Unschuld bestand. Dennoch lautete der Spruch: „Schuldig!“ Bevor die Richter von Toulouse den Delinquenten dem Scheiterhaufen überantworteten, gaben sie ihn für die „gewöhnliche“ und die „außerordentliche Folter“ frei — die römische Kirche will das Geständnis des Ketzers. Sie bekommt es nicht.

Die Hinrichtung erfolgt am 9.März 1762 und entblößt den grausamen Charakter einer klerusabhängigen Gerichtsbarkeit: Nackt über ein Rad gebunden, mit dem Kopf nach unten, werden Jean Calas mit einer schweren Eisenstange Arme und Beine gebrochen, jedes einzelne Glied an zwei Stellen, mit kalkulierten Intervallen zur Verlängerung der Qualen. Dazwischen hält der Priester dem Verstümmelten das Kruzifix zum Kusse entgegen, aber der wendet den Kopf ab. Dann, endlich, gibt der Henker ihm den Todesstoß, das heißt, er zerschmettert ihm die Brust mit dem dicken Ende der Eisenstange. So starb Jean Calas — es dauerte zwei Stunden.

Aber zu Ende war die Geschichte damit nicht.

Voltaire, das „Gewissen seines Zeitalters“, erfährt von dem Justizmord erst nach der Hinrichtung. Er prüft lange, ehe er am 13.Februar 1763 schreibt: „Ich wage es, der Unschuld der Calas so sicher zu sein wie meiner eigenen Existenz!“ Dann mobilisiert der große Aufklärer den ganzen Einfluß seines Namens in Europa und erlahmt darin über zwei Jahre keinen einzigen Tag. Den Ausschlag gibt sein 1964 erscheinender Traktat über die Toleranz, eine umfassende Geschichte der Folgen von Unduldsamkeit, verfaßt in der klaren Prosa eines klaren Humanisten. Sie führt zur Wiederaufnahme des Verfahrens, das am 9.März 1765 ein neues Urteil fällt: „Unschuldig!“ Das Unglaubliche, Unerwartete, die Revision — sie konnte Jean Calas nicht wieder zum Leben erwecken. Aber die Macht, die Selbstgerechtigkeit, die Lüge, diesmal waren sie auf der Strecke geblieben — durch die Kraft des Wortes! Victor Hugo am 30.Mai 1878, zum 100.Todestag Voltaires, vor dessen Sarkophag im Pariser Panthéon: „Du plädiertest gegen die Tyrannen und die Ungeheuer und für die Sache des Menschengeschlechts, und du gewannst sie. Großer Mann, sei auf immer gesegnet!“

Sie, Salman Rushdie, sollen als Lebender triumphieren, und die Kraft des Wortes soll ihren Beitrag dazu leisten. Die moderne Kommunikationstechnik hat uns Schriftstellern und Journalisten dazu Mittel in die Hand gegeben wie nie zuvor.

Denn das Menetekel, das an der Wand des ausgehenden Jahrhunderts gegen seine Tyrannen, Despoten, Diktatoren, Folterer und „Wahrheitsbesitzer“ geschrieben steht; der Todfeind, an den sich die politischen, ideologischen und religiösen Gewalttäter nie gewöhnen werden, heißt: Öffentlichkeit! Nutzen wir sie — ein Schwur!

In diesem Sinne Ihnen, Salman Rushdie, Ehre, Gruß und Solidarität!

Unverbrüchlich,

Ihr Ralph Giordano