ars vivendi, ars bibendi

■ Frank Schulz' Romandebut „Kolks blonde Bräute“

Trinken“ und „Trost“ fangen ähnlich an, hören aber ganz verschieden auf. Auch Bodo Morten, der Erzähler in Frank Schulz' Romandebut Kolks blonde Bräute, weiß das längst. So richtig klar wird es ihm allerdings nur, wenn er gesoffen hat. Der tiefe Blick ins Glas ist für Bodo nicht nur Gewohnheit oder Zwang, sondern auch Quell der Inspiration und — damit verknüpft — der Erinnerung. „Ja, so war das damals“, leitet er seine langen Gedankenfluchten für gewöhnlich ein, wohl wissend, daß er schon bessere Tage gesehen hat — gelinde gesagt.

„Damals“, das war heute, zu Beginn der neunziger Jahre. Der noch halbwegs jugendliche Erzähler trifft sich zusammen mit Heiner, Satschesatsche und dem Titelhelden Kolk in diversen Hamburger Szenekneipen; vorgeblich zum Skat, doch in Wahrheit, um sich gemeinsam zu betrinken. Ein Bier nach dem anderen wandert, nur unterbrochen von diversen Tequilaschnäpsen, vom Tresen auf den Ecktisch, um dort von den Freunden zügig weggetrunken zu werden. Nicht selten endet der Abend in einem Zustand, der gruppenintern „schwerer Lollimann“ genannt wird.

Was auf den ersten Blick planlos wirkt, gehorcht in Wirklichkeit einem strengen Regelwerk. Ordern und ansetzen, schäkern und scherzen, verzögern und kippen, ausgeben und ausgegeben bekommen — geradezu verschwenderisch reich ist das Repertoire an Ritualen, das sich, quasi als Überbau, über dem simplen Sachverhalt des Alkoholgenusses wölbt. Bodo, Kolk und die anderen sind Systemtrinker, mehr noch: Trinken ist ihnen ars bibendi und ars vivendi gleichermaßen, in jedem Fall also eine Form der Kunst, die, samt der ihr untergeordneten Wissenszweige wie Katerkur und Kotzkritik, einem Zustand der Seinsfrömmigkeit und Weltvergessenheit zuarbeiten soll. Ist das Schicksal den Trinkenden hold, wird der auch erreicht. So etwa an jenem legendären Abend in der „Glucke“, an den Bodo gern zurückdenkt: „Moleküle spritzten uns aus Augen, Mund und Ohren, verbanden sich in der dunstigen Fruchtblase der ,Glucke‘ miteinander... Wir hatten es geschafft. Die Zeit blieb stehen. Wir tanzten auf einem stillen Globus.“

Was authentisches Kneipenkolorit anbelangt, hat der Autor seinem süffelnden Erzähler eine Kraft des Erinnerns mitgegeben, die die widerständigen, gleichsam utopischen Züge des Trinkens plastisch herausarbeitet. Überdeutlich erstehen sie vor dem Auge des Lesers, jene giftig- schönen Momente, in denen die schüchterne Lebenslust der Helden wie aufgescheucht durchs Kneipenambiente geistert, eine profane Erleuchtung nach der anderen zeitigend. Erzählerisch paart sich der Wille zum Rausch mit einer Assoziationsgabe, die pointensicher von Szene zu Szene torkelt, unterbrochen nur von Dialogen, die in ihrer idiomatischen Feinheit dem Leben selbst abgelauscht scheinen. Mitfühlender und kenntnisreicher ist der Sound des Tresens in all seinen Schattierungen seit Henscheids frühen Romanen nicht mehr registriert worden.

Freilich ist Bodos Chronisteneifer nicht ohne doppelten Boden. Auch hierin ein Kind der Neuen Frankfurter Schule, läßt Schulz im sanft-ironischen Erzählton seiner Figur einen peniblen, ja gnadenlosen Realismus durchschimmern, der keinen Zweifel daran läßt, was die sympathische Kneipenbesatzung auch ist: eine Versammlung durchaus katastrophischer Figuren nämlich, die haltlos im Meer des Lebens schwimmt. Kein Vollrausch kann auf die Dauer davon ablenken, daß es sich bei der Viererbande aus der „Glucke“ um Männer auf verlorenem Posten handelt. Aus Angst vor Yuppies, Miniröcken, gesellschaftlicher Modernisierung, vor Werteverlust, Videoclips und all dem anderen Unsinn des Lebens, klammern sie sich an die paar Quadratmeter Kneipe, auf denen sie, nur scheinbar diogenesgleich, ihr Leben vertrinken. Denn das Verdrängte kehrt zuverlässig wieder; in Form grausamster Kater, aber auch in den Winkelzügen obskurer Sexualverschwörungstheorien, die sich um Kolks bürgerliches Dasein als Briefträger ranken. Postkarten ziehen Obsessionen nach sich, Zahlen werden zu Mysterien, schließlich Biere zu Bräuten; in der Dauerregression des Suffs konvergiert scharfsinnigste Kombinationsgabe mit finalem Schwachsinn.

Trotz seiner humoristischen Züge ist Frank Schulz' Erstling ein tiefmelancholisches, geradezu illusionsloses Sittengemälde. Er beschreibt das alltägliche Scheitern gewöhnlicher Figuren, deren tiefe Einsamkeit dem Leser spätestens dann bewußt wird, wenn der Erzählfluß über verschiedene Formen des kunstvollen Ritardando das Zentralgeheimnis des Romans lüftet. Thomas Groß

Frank Schulz: Kolks blonde Bräute. Haffmans Verlag Zürich, 298 Seiten.