„Der Countdown zum Bürgerkrieg läuft“

Das brutale Vorgehen der algerischen Armee hat die Islamisten zu einem Kurswechsel gezwungen/ FIS-Basis drängt zum Aufruhr/ Für nächste Woche angesagter Protestmarsch wurde verboten  ■ Von Oliver Fahrni

In der Nacht zum Mittwoch kippte Algerien in den Alptraum. Drei Wochen lang hatten die Putsch-Generäle die Islamisten mit Verhaftungen, politischen Prozessen und harten Einsätzen bis aufs Blut gereizt. Tote in Algier, Tote in Constantine, Tote in Laghouat und Batna. Drei Wochen lang hatten die Kader der Islamischen Heilsfront (FIS) ihre Basis ruhiggehalten. Jetzt war die Bruchstelle erreicht. Irgendwo in der Banlieue von Algier trafen sich die noch nicht festgenommenen, zum Teil abgetauchten Mitglieder des FIS-Rates Majlis En-Choura zu einer klandestinen Sitzung. Sie beschlossen, die Auseinandersetzung mit dem Regime auf die Straße zu tragen: Nächste Woche Freitag wollen sie mit einem „landesweiten pazifistischen Marsch“ gegen die „Piraterie“ der Junta demonstrieren, die Wideraufnahme des demokratischen Prozesses und die Freilassung der FIS- Chefs Abassi Madani, Ben Hadsch, Hachani und Khebir erzwingen. General Khaled Nezzar nahm gestern den Fehdehandschuh auf und verbot die Demonstration. „Der Count- down zum Bürgerkrieg läuft“, kommentierte ein algerischer Journalist.

Anlaß zur Verhärtung ihrer Position war für die Islamisten die Repression von Batna. In der Hauptstadt des Hochlandes Aurès kamen seit Dienstag mindestens elf Menschen zu Tode. Nach einem Schnellverfahren gegen einen Imam wegen „tendenziöser Rede“ (Urteil: Zwei Monate Haft) versuchten Jugendliche, das Gericht zu besetzen. Die Polizei schlug sie zurück. Dann kam die Demonstration unter Feuer von Provokateuren der Sécurité militaire, die sich auf den umliegenden Dächern postiert hatten. Helikopter kreisten. Der Kleinkrieg dauerte 48 Stunden. Die wirkliche Zahl der Toten und Verletzten wird man nicht erfahren — viele Angeschossene wurden versteckt, um sie der Verhaftung im Spital zu entziehen und die Familien vor Repressalien zu schützen. Das staatliche Radio gab an, Sondereinheiten des Innenministeriums hätten in FIS-Verstecken Sprengstoff gefunden. Ein FIS-Sprecher dementierte. Die Übergriffe der Armee seien „die Rache der Junta an einem Volk, daß sich erfrecht hatte, die Islamisten zu wählen“.

Die Islamisten entschlossen sich zum Strategiewechsel, weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Während der provisorische Staatspräsident Mohammed Boudiaf in einem TV-Interview meinte, die FIS „sei eine anerkannte Partei, die alle Freiheiten hat, ihre Ideen auszudrücken“, betrieben seine Mannen die Zerschlagung der Islamisten-Organisation. Hunderte wurden verhaftet. Die kleinen Quartiermoscheen, Hammams und Gebetssäle, die Zentren der FIS-Kommunikation, wurden gechlossen. Die Blauhelme des Innenministeriums besetzten in den letzten Tagen den FIS-Sitz und die Zentrale der Islamisten-Gewerkschaft. Die Sozialarbeit der Quartierkomitees wurde unterbunden, die FIS-Zeitungen beschlagnahmt, die Chefredakteure gefangengesetzt. Als die Islamisten auch auf das Verbot der freitäglichen Versammlungen um die großen FIS-Moscheen zurückhaltend reagierten, erging letzte Woche der Befehl, öfters von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.

General Nezzar zielte vor allem auf den gemäßigten Flügel der Islamisten. Das verriet seine Absicht, die FIS zur offenen Machtprobe zu provozieren und damit nachträglich den Abbruch der Wahlen und den Putsch zu rechtfertigen. Ein Ziel hat er zumindest erreicht: In der FIS hat seit Mittwoch nacht der radikale Flügel Oberhand. Die Jugendlichen in den Volksquartieren — zwei Drittel der AlgerierInnen sind jünger als 25 — drängen zum Aufruhr. Mit dem Aufruf zum Marsch hat die FIS-Führung etwas Druck abgelassen. Sie hat die Demonstration nicht auf heute, sondern den 14. Februar gelegt, um Raum für mögliche Verhandlungslösungen zu schaffen. Gleichzeitig rief sie die ausländischen Kreditgeber auf, „alle Kredite einzufrieren, bis der Wahlvorgang wieder aufgenommen wird“.

Die Empfehlung der Islamisten hat wenig Chancen, in Paris, Washington und Tokio gehört zu werden, trifft das Regime aber am Nerv. Fließen jetzt nicht Milliarden ins Land, kann Premierminister Sid Ahmed Ghozali weder sein großes Importprogramm noch den Bau von 200.000 Wohnungen oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze finanzieren. Mit einem schnellen Aufschwung aber steht und fällt das Regime. Die Devisenreserven Algeriens betragen noch knappe 90 Millionen Dollar — nur ein Schritt zur Zahlungsunfähigkeit. Doch die Banken, Regierungen und der IWF zaudern. Das internationale Bankenkonsortium unter dem Crédit Lyonnais, in dem die japanischen Kredithäuser das Sagen haben, setzte die Freigabe eines 1,5-Milliarden-Dollar-Kredites für zwei Wochen aus. Die Zurückhaltung der Banken und skeptische Stimmen aus Frankreich und den USA zeigen, daß die algerische Junta auf eine weichere Linie gezwungen werden soll — man hält eine Lösung unter Ausschluß der Islamisten für wenig dauerhaft. Genau an dieser Linie verläuft auch der Streit innerhalb des Regimes.