Pendeln statt Umzug in den Westen

■ 600.000 Ostdeutsche arbeiten in den alten Bundesländern — Tendenz steigend

Rund 600.000 Ostdeutsche pendeln derzeit zu einem Arbeitsplatz in Westdeutschland. In dieser Zahl, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet hat, sind allerdings über 100.000 OstberlinerInnen enthalten, die im Westteil der Stadt arbeiten. Von den Pendlern sind 83 Prozent Männer und 65 Prozent jünger als 35 Jahre.

Nach der Befragung der Berliner Wirtschaftswissenschaftler hat die deutlich größere Seßhaftigkeit der Frauen nichts mit der oft vermuteten geringeren Mobilitätsbereitschaft oder der höheren Arbeitslosigkeit der Frauen in den neuen Bundesländern zu tun. Alleinige Ursache ist die — trotz der traditionell höheren Erwerbstätigkeit der DDR-Frauen — Alleinzuständigkeit für die Familienarbeit. Als weiteres Mobilitätshindernis nannten die befragten Frauen den Abbau der einstmals flächendeckenden Kinderbetreuungseinrichtungen.

Facharbeiter stellen mit 43 Prozent und Ungelernte mit 22 Prozent die beiden größten Gruppen der PendlerInnen. Die meisten arbeiten in der Industrie (26 Prozent) sowie in Handel, Verkehr und Dienstleistungsbetrieben (40 Prozent). Weitere 15 Prozent fanden bei westdeutschen Baufirmen eine Anstellung. Die Tagespendler (56 Prozent) fahren im Schnitt 59 Kilometer vom Wohnort zum West-Arbeitsplatz. Weitere 31 Prozent treten nur zum Wochenende die Heimreise nach Ostdeutschland an.

Die Unbequemlichkeit der langen Wege zahlt sich aus: Männer erreichten durch den Arbeitsplatzwechsel eine Lohnsteigerung von 90 Prozent, Frauen von 67 Prozent. Die befragten Männer nannten mehrheitlich auch den höheren Verdienst als Grund für ihre Bereitschaft zur Mobilität, Frauen jedoch eher die Schwierigkeit, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden. Allerdings war bei vielen Männern auch die Gefahr, ihren alten Arbeitsplatz künftig zu verlieren, ausschlaggebend für ihre Entscheidung.

Pendler können sich zwar eher (60 Prozent) vorstellen, ganz in die alten Bundesländer zu ziehen, als der ostdeutsche Durchschnitt (35 Prozent). In der Regel tun sie es aber nicht. Trotz stetig steigender Pendlerzahlen hat sich die Zahl der Umzüge von Ost- nach Westdeutschland seit Januar 1991 nicht erhöht. Das könnte sich allerdings bei weiter ansteigender Arbeitslosigkeit ändern. Die regelmäßig in den Westen Reisenden pendeln, um einen Umzug zu vermeiden. Nach einer weiteren Studie des DIW über Abwanderungsmotive war die Angst vor dauerhafter Arbeitslosigkeit der vorherrschende Umzugsgrund, keineswegs jedoch ein möglicher höherer Verdienst.

Im Gegensatz zur endgültigen Abwanderung bewerten die Ökonomen das zeitweise Pendeln von Ost-Arbeitskräften als außerordentlich positiv: Viele Pendler würden sich auf ihren West-Arbeitsplätzen in moderner Technik weiterbilden und hätten somit auch — beim Entstehen neuer Arbeitsplätze — an ihren Wohnorten langfristig die bessere Chance auf eine Beschäftigung.

Die verbreitete Meinung, daß Ostdeutsche generell weitere Wege zum Arbeitsplatz auf sich nehmen müßten als Westdeutsche, erweist sich im übrigen als Gerücht. In den alten Bundesländern pendeln 39 Prozent aller Erwerbstätigen aus ihrer Gemeinde heraus, in den neuen Bundesländern lediglich 31,6 Prozent. Donata Riedel