Vereinsleben zwischen Plena und Plastiktüten

■ Berliner Obdachlosengruppe will ihr eigenes Kulturhaus eröffnen/ Seit einem halben Jahr stellt die Truppe eigene Theaterstücke und Gedichte vor/ Verein mit Obdachlosen und Sozialarbeitern als Experiment, bei dem alle lernen müssen

Einfach nur sein

den Kopf irgendwo rauflegen

ohne die Frage nach Ausweis

und Steuerkarte

einfach nur atmen

ohne den Schrei

HIER NICHT

Klaus Lenuweit

»Lieber Gott, schenke uns eigene Räume,« stöhnt Klaus. Er ist seit zehn Jahren ohne festen Wohnsitz, ständig auf Achse. Ein Fixpunkt in seinem Leben ist das Mittwochsplenum seines Vereins in der Naunynritze. Was für ein Verein? »UNTER DRUCK — kultur von der straße« ist ein Verein in Gründung mit 24 Mitgliedern, die selten organisiert auftreten — Obdachlose, Sozialarbeiter, Künstler. »Wir wollen mehr als nur Theater spielen«, erzählt Klaus. »Ich will Obdachlosen ermöglichen, mit all ihren Unzulänglichkeiten etwas machen zu können — leben, wohnen, arbeiten. Dazu brauchen wir Räume.«

Angefangen hat alles auf der Bühne. Vor einem Jahr begann Regisseur Bernhard Wind in Berlin, mit Obdachlosen Theater zu spielen. Der »Untergang« war für den Regisseur ein voller Erfolg — für die Akteure eher ebenderselbe. Nach der letzten Aufführung saßen die Schauspieler wieder da, wo sie herkamen — auf der Straße. Glanz und Gloria waren schnell vergangen. »Es war furchtbar«, erzählt Klaus. »Da denkst du, das ist es jetzt, und hinterher bist du so weit wie vorher.«

Trotz aller Frustration blieb die Gruppe zusammen. Sie begannen, Gedichte zu schreiben — Stücke aus ihrer Alltagskultur, die sie in Halle, Uelzen und Berlin, bei Berberkongressen und Lesungen vorstellten. Sie handeln von Lust und Frust, Wärmestuben und U-Bahn- Stationen, Abschieden und Abhängigkeiten.

Der 43jährige Klaus schreibt schon seit zehn Jahren — seit seinem ersten Knastaufenthalt. Schreiben, sagt er, hätte auch etwas mit Therapie zu tun. »Den ganzen Scheiß, den man sonst nur sich selber erzählt, kann man so rausschreien.« Auf der Straße ginge viel mehr verloren als nur Wohnung und Arbeit. »Vertrauen, Sexualität, Beziehungen, Zärtlichkeit — das ganze Zeug, das immer so albern klingt.«

»Das Ganze ist aber auch politisch«, sagt Heinz. »Wir müssen sichtbar machen, was Obdachlosigkeit heißt, und hinterfragen, wie so etwas zustande kommt. Wir wollen öffentliche Breitenwirkung.« Den Verein betrachtet er als Experiment von Betroffenen und Profis zueinanderzufinden.

Vorgenommen haben sich alle viel. Klaus will mehr als nur Theater spielen, die Sozialarbeiter Burkhard und Sven wollen mehr als nur gewöhnliche Sozialarbeit. »Wir wollen gleichberechtigt zusammenarbeiten und von diesem ewigen Sozialarbeiter/Klient wegkommen« erzählt Sven. Stattdessen spielen sie Theater und erörtern jeden Mittwoch, wie es weitergeht. Als nächstes ist ein Obdachlosenkulturhaus vorgesehen.

Das Haus soll eine Anlaufstelle sein, auch für die, »die in der Anonymität verschwinden und sich selber nicht mehr helfen können«, wie Charly sagt. Theater spielen wollen sie sowie Schreib- und Zukunftswerkstätten schaffen. Ein Haus haben sie sich bereits ausgeguckt. Doch sollen sie da gleich einziehen? Heinz ist dagegen. »Wir haben noch so viel zu tun. Morgen Probe, Samstag Probe, Sonntag Aufführung. Wir sind ständig unter Druck.«

Aus welchen Töpfen das Obdachlosenkulturhaus, das in seiner Konzeption bisher einzigartig ist, finanziert werden soll, ist noch unklar. Klar ist dafür seit dem Plenum, wer für morgen (Sonntag) abend das Essen und die Getränke einkauft. Dann führt die Gruppe um 20 Uhr in der Naunynritze (Naunynstraße 63) ihr letztes Stück auf. Einen Namen hat es nicht. »Das ist 'ne Weihnachtsgeschichte.« Im Februar? »Das ganze Jahr ist doch so verlogen wie Weihnachten«, sagt Klaus. Jeannette Goddar

»UNTER DRUCK — kultur von der straße« freut sich immer über Spenden: Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 20 500, Konto 30 06 300.