■ Jüdische Lebenswelten
: Was haben Sie erwartet, was haben Sie vermißt?

JÜDISCHEL E B E N S W E L T E N Was haben Sie erwartet,

was haben Sie vermißt?

Irina Wutsdorff, 21, Studentin

Ich habe nur wenig über die jüdische Kultur in Europa und das Alltagsleben gewußt. Aber ich finde es sehr interessant, wie die jüdischen Literatenkreise in Berlin entstanden sind und die Kultur — in all den Jahren — doch irgendwie überlebt hat. Viele jüdische Intellektuelle habe ich nur dem Namen nach gekannt, aber von Else Lasker-Schüler zum Beispiel noch nie ein Gedicht gelesen. Das will ich jetzt nachholen. Wenn ich meine Eindrücke zusammenfasse, fällt mir der Satz ein: »Vom Judentum geht der Kosmopolitismus aus«. Das Überleben und der Frieden hängt immer vom Grad der Gemeinsamkeit aller ab. Ich kann mir nicht erklären, warum die Juden in der Geschichte immer wieder verfolgt worden sind.

Die »Jüdischen Lebenswelten« füllen eine Ausstellungslücke aus: Wir kennen den Holocaust, Israel und vielleicht noch ein Kibbutz, aber das war's dann auch. Das hier aber ist eine Jumbo-Ausstellung, an der ich höchstens den aktuellen Bezug zu den Berliner Juden vermißt habe. Gelernt habe ich trotzdem viel. Ich habe ein Faible für die alten Bücher. Wenn ich jetzt die Augen zumache, sehe ich sie im Lichthof stehen. Es es faszinierend, wie vielfältig und zugleich anpassungsfähig die jüdische Kultur ist. Aber nicht alles ist beschaulich. Neulich kam eine Jüdin aus den USA an die Garderobe und regte sich wegen der Sicherheitsvorkehrungen auf: »Ihr merkt, wenn meine Handtasche zwei Inch zu groß ist, aber nicht, wenn vier Millionen Juden deportiert werden.«

Ich interessiere mich für die »Jüdischen Lebenswelten«, weil es im Golfkrieg so viele Probleme damit gab, wie man sich als Deutscher gegenüber den Juden verhalten soll. Ernst Tugendhat, der Berliner Philosoph, hat mich damals sehr beeindruckt, weil er sensibel und kritisch das schwierige Verhältnis beleuchtet hat. Heute möchte ich einen Teil meiner Fragen beantworten. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum all das Wissen der jüdischen Künstler und Wissenschaftler, die in den 20er Jahren in Deutschland gelebt haben, so verschütt gegangen ist. Mein Interesse ist vor allem politischer, nicht kultureller Natur.

Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie viele Geistesmenschen aus dem Judentum hervorgegangen sind. Ich sag's mal auf berlinisch: Irgenwas muß an der Rasse doch dransein. Die jüdische Kultur ist sehr umfassend. Was ich nicht verstehe und wahrscheinlich auch Zeit meines Lebens nicht mitkriegen werde ist, daß die Juden immer wieder ein — zunächst mal — positiver Bazillus sind, der in der Kultur etwas bewegt. Schon lange interessiere ich mich für Mendelssohn. Meine Frau ist schon seit Jahren im Jüdischen Kulturverein. Sie findet es bedauerlich, daß Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht zu sehen sind.

Wir wollten eigentlich mit der Christlich-Jüdischen Gemeinde aus Fulda eine Fahrt hierher organisieren. Das ist geplatzt und nun sind wir allein da. Die Ausstellung ist schon beeindruckend. Sie bietet einen schönen geschichtlichen Aufguß, auch wenn angesichts des Holocaustes von Gefallen keine Rede sein kann. Es ist erschütternd, wie lange die Verfolgung der Juden schon grassiert. Ich habe immer gedacht, Hitler hätte den Judenstern erfunden, aber einen gelben Ring, den gab's schon viel länger. Auch in meiner Schule gab es zwei Jüdinnen, die eines Tages weg waren. Das andere hat man nicht gewußt, das steht ja auch in der Ausstellung, wie abgeschottet das Konzentrationslager in Auschwitz war. Umfrage: mis, Fotos:

Theo Heimann/ G.A.F.F., FvD