HOHE WÄNDE, LEERE TASCHEN

■ Der Bergsteigerzeltplatz "Pierre d'Orthaz" in Chamonix

Der Bergsteigerzeltplatz

„Pierre d'Orthaz“ in Chamonix

VONMALTEROEPER

Der blaßhäutige Kassierer hat es nicht leicht. „How many day?“ fragt er in routiniert-gebrochenem Englisch, „wie lange bist du schon da?“ — „Pas de monnaie“, erwidert der lange Spanier lakonisch in ebenso akzentbetontem Französisch, „kein Geld“. — „How many day?“ bohrt der Franzose nach. Der Spanier zuckt mit den Schultern. „Pas de monnaie.“

Der Kassierer geht weiter. Es gibt Gäste, die verschwinden bei seinem Anblick gleich ganz, und das wochenlang. Aber „Camping Pierre d'Orthaz“ an der Straße zwischen Chamonix und dem Dörfchen Les Praz ist auch nicht irgendein Zeltplatz: Es ist der billigste Zeltplatz von Chamonix. Und Chamonix am Fuße des Montblanc-Massivs ist das Mekka europäischen Bergsteigens. Das Montblanc-Massiv ist nichts für Wanderer und auch nicht unbedingt für die Vertreter der Freikletter- Welle. Worum es hier in erster Linie geht, ist klassisches Bergsteigen, Klettern im Hochgebirge, jenes so oft als spießiges Heldentum verkannte Suchtmittel aus Sport, Abenteuer und Naturerlebnis. Nirgendwo sonst auf dem alten Kontinent findet sich eine so große Auswahl erstklassiger und schwieriger Anstiege; das im Sommer vor Touristen brodelnde Städtchen in Hoch-Savoyen nennt sich nicht umsonst „Welthauptstadt des Alpinismus“. Um so berühmte Klassiker wie „Amerikanische Direkte“, „Walkerpfeiler“ oder „Droites-Nordwand“ anzugehen, kommen die Kletterer bis von jenseits des Atlantiks und des Äquators. Und wenn sie knapp bei Kasse sind, gehen sie auf den Zeltplatz „Pierre d'Orthaz“ — Briten, Spanier, Polen, Tschechen, Slowaken, Deutsche, Schweizer, Österreicher, Amerikaner, Bulgaren, Jugoslawen, Australier, Kanadier — eine kleine Open-air-Ausgabe der UNO-Vollversammlung.

Während die niedrigen Preise des Zeltplatzes die Kletterer anziehen, ist das Fehlen sanitärer Einrichtungen vermutlich der Grund, der Nichtkletterer und die einheimischen Franzosen so verblüffend vollständig fernhält. Die nach Ammoniak stinkenden Plumpsklos werden nur von ganz Hartgesottenen und Neulingen benutzt. Duschen gibt es auf anderen Zeltplätzen — verboten, aber umsonst. Die öffentlichen Duschen in der Stadt sind ein gutes Stück entfernt und haben fast immer geschlossen, wenn man sie mal wieder dringend nötig hat. Wasser erhält man aus zwei Quellen im Wald.

Manche Leute bleiben lange und richten sich häuslich ein: Dächer aus Plastikplanen werden vor und über den Zelten aufgespannt, um primitive Tische gruppieren sich mitgebrachte und selbstkonstruierte Sitzgelegenheiten. Ab und zu kommen auch die Besitzer der Straßencafés und schauen, ob sich nicht mal wieder einer ihrer Stühle oder Sonnenschirme hierher verirrt hat.

Spezielle Attraktion ist ein am Rande des Camps liegender Felsklotz, der nämliche „Pierre“, mit zahllosen Miniatur-Kletterproblemen, nur zwei bis drei Meter hoch, aber oft verteufelt schwer. „Bouldern“ — so das Fachwort — am Felsblock ist tägliches Training, Zeitvertreib und Gelegenheit zum Kennenlernen, der Marktplatz des Camps.

Gary aus Sheffield verbrachte Mitte bis Ende der achtziger Jahre jeden Sommer zwei oder drei Monate hier im „valley“. Sein Repertoire von Stories über das Camp ließe jeden Abenteuerbuch-Autor vor Neid erblassen. Der legendäre Freßwettbewerb von zwei Dutzend Engländern anno '87 zum Beispiel — sämtliche Lebensmittel waren von einem großen Supermarkt „gesponsert“, wobei der Sponsor natürlich nichts von seinen guten Werken wußte. Sein Freund Victor wohnte im Zelt nebenan bei der Riesenpyramide aus Bierflaschen — „Life is a bottlefield!“ grinsten sie. Wer den blonden Victor sah, wie er sich, wenn die Mittagshitze ihn aus dem Zelt trieb, verkatert und mißtrauisch blinzelnd, aus seinem Schlafsack schälte und fluchend begann, seinen Walkman zu suchen, der hatte es nicht leicht zu erraten, daß Victor damals noch Butler von Beruf war. Besonders die Briten, in der Szene als traditionsbewußte spleenige Hardliner bekannt, reizen ihr Urlaubsbudget häufig mit geradezu sportlichem Wahnwitz aus, jobben zwischenzeitlich als Tellerwäscher oder lassen sich die Arbeitslosenunterstützung nachschicken.

Außer bei Freunden einer frühen Nachtruhe allgemein sehr beliebt: die Spanier mit ihrer ständig dudelnden Punkmusik und ihren üppigen, gastfreien Fiestas. Bergsteiger aus Osteuropa finanzieren einen Teil ihres Urlaubs durch den Handel mit den begehrten russischen Eisschrauben aus Titan — in der ehemaligen Sowjetunion von Kletterern mit Material aus der Fabrik in Heimarbeit gefertigt, bei Polen und Tschechoslowaken gegen Seile und anderes aus dem Westen eingetauscht.

Wenn das Wetter ganz schlecht wird, heißt es im Tal ausharren, die Sache aussitzen, gelangweilt, geduldig, passiv und unproduktiv. Das Ausharren auf dem Zeltplatz ist ein hartes Brot. Dauerregen weicht den Boden auf, Schlamm und knöcheltiefe Pfützen umgeben die matschigen Grasflächen. Polen, von den Westlern stets wegen ihrer spartanischen Polski-Fiats und der veralteten Bergausrüstung bemitleidet, brillieren dann mit kniehohen Gummistiefeln und hochseetauglichem Ölzeug. Engländer latschen stoisch barfuß durch den kalten Matsch: „So bleiben wenigstens meine Schuhe trocken!“ Schlechtwetter bedeutet erzwungene Untätigkeit, Langeweile. Ein verzweifelter Zustand für die Adrenalinabhängigen.

Nach jedem Schlechtwetter füllt sich dann der Zeltplatz wieder. Man versucht sein Glück von neuem, und wenn ein großer Wurf gelingt, hat sich alles gelohnt. Wäre das Wetter immer schön, man würde sich ja gar nicht mehr über diesen besonderen Zustand freuen. Je mehr man in einem Biwak gefroren hat oder je knapper eines vermieden werden konnte, desto großartiger ist das Erlebnis im Rückblick. Mit einem Wort — je schlimmer es war, desto überwältigender die Freude, wenn die große Wand endlich vorbei ist! In der Härte liegt die Würze. Die Motivation für Nordwände ist ein kleines Perpetuum mobile der Selbstüberlistung.

In Deutschland besitzt Bergsteigen, wenn man ehrlich ist, ein miserables Image, noch immer prägen Luis-Trenker-Filme ein Bild vom schwindelfreien Verteidiger der Heimat, edler als ein Edelweiß und dem Wilddieb ein Schrecken. Der einzige andere Berühmte aus der Branche, Reinhold Messner, hat zu einem besseren Verständnis der Dinge nicht unbedingt beigetragen. Sein rast- und a priori fruchtloses Suchen nach einem wahren Ich trieb ihn zu epochemachenden Glanzleistungen, hat aber mit Motivation und Erleben des typischen extremen Alpinisten sehr wenig gemein. Typisch jedoch ist das Ausufern vom Hobby zur Sucht, die Geld und Zeit des Befallenen verzehrt und seine Energie in bedenklichem Übermaß von beruflicher Tätigkeit ablenkt. Auffallend oft sind daher die Extremen auch extrem abgebrannt — nur die wenigsten guten Hähne aus diesem Metier werden fett. Klassische Antwort des Climbaholics auf die Frage, was er denn außer Klettern sonst noch so tue: „Trying not to work“ — „ich versuche nicht zu arbeiten.“