Die wirksamste Medizin der Welt

■ Heilung durch Nichts: Der Placebo-Effekt

Heilung durch Nichts: Der Placebo-Effekt

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lacebo heißt übersetzt „Ich werde gefallen“ — und Placebos gefallen jedem. Die weitverbreitete Annahme, daß nur leicht beeinflußbare, wenig selbstbewußte, labile Menschen auf wirkstofflose Scheinmedikamente „hereinfallen“, ist von der Placebo-Forschung längst widerlegt. Zwar läßt sich bei jedem Placebo-Präparat eine Gruppe von „Non- Respondern“, bei denen sich keine Wirkung zeigt, experimentell nachweisen. Aber sie unterscheiden sich in ihrem Persönlichkeitsprofil nicht von den Probanden, bei denen ein Placebo-Effekt eintritt: Jede Person reagiert unter bestimmten Umständen auf ein Placebo — und in anderen Situationen nicht. Das Wirkungsspektrum von Placebos entspricht nicht nur dem des echten Medikaments, es geht weit darüber hinaus— in einem Experiment verabreichte ein Arzt ein starkes Beruhigungsmittel, von dem er behauptete, es sei ein Placebo. Prompt büßte der Wirkstoff seine Wirkung ein, die Vorinformation, daß es sich um eine „Zuckerpille“ handele, blockte den gesamten pharmazeutischen Effekt ab. Ein ähnliches Ergebnis erbrachten Experimente, bei denen ein Aufputschmittel mit dem Hinweis verabreicht wurde, es handele sich um ein Beruhigungsmittel — die anregende Wirkung fiel vollkommen aus. Bei einer in den USA durchgeführten Untersuchung einer neuartigen Chemotherapie, verloren in der Kontrollgruppe, die ein Placebo erhalten hatte, dreißig Prozent der Probanden ihre Haare.

Voraussetzung der Placebo-Wirkung ist ein Vorurteil — der Glaube des Patienten, daß eine bestimmte Behandlung helfen wird. Nicht nur Zuckerpillen, auch ein ärztliches Gespräch, psychologische Sitzungen, Bestrahlungen und andere Maßnahmen gelten als Placebos. Wie groß die Macht des Vorurteils ist und wie klein die suggestiven Reize sein können, die zu ihm führen, zeigte etwa ein Experiment in Leipzig, bei dem ein Psychiater seinen studentischen Probanden ein Placebo mit der Auskunft verabreichte, es handele sich um ein völlig neues Präparat, weswegen auch keine Angabe über Zweck und Wirkung des Mittels gemacht werden könne, um die Versuchspersonen nicht zu beeinflussen. „Zufällig“ anwesend bei diesem Test war ein Kollege, von dem die Studenten wußten, daß er über Angsttherapie forschte — prompt gaben neunzig Prozent der Teilnehmer später an, das „neue“ Präparat hätte beruhigende, angstlindernde Wirkung auf sie gehabt.

Das Zusammenspiel von Geist und Abwehrsystem untersucht die Psychoneuroimmunologie, eine sehr junge medizinische Disziplin, die freilich schon bei allen großen Heilern der Geschichte — ob sie Buddha, Jesus, Hippokrates oder Paracelsus hießen — quasi zur Grundausstattung des Notfallkoffers gehörte. Und so entdecken die Weißkittel- Schamanen unserer Tage neu, was ihre Kollegen in allen Kulturen der Welt seit Jahrtausenden wissen: daß die eigentliche Wurzel jeder Krankheit nicht in den Organen, sondern im geistigen, seelischen, feinstofflichen Bereich liegt und folglich auch auf diesem Feld am wirksamsten bekämpft werden kann: nicht durch Herumdoktorei an den Symptomen, sondern durch Beseitigung der Ursache. Paracelsus war überzeugt, daß überhaupt nur der „siderische (seelische) Leib“ zur Krankheit fähig sei und sich die körperlichen Symptome zu dieser Störung verhielten wie der Abdruck zum Fuße. Die Psychoneuroimmunologen unserer Tage sind von diesem Stand des Wissens nicht mehr weit entfernt, wenn sie die provokante These äußern, das 99 % Prozent aller medizinischen Heilerfolge auf Placebo-Effekte zurückzuführen seien. Das ist sicher übertrieben — Insulin wirkt auch, wenn der Diabetiker absolut nicht daran glaubt — andererseits sind laut einer offiziellen amerikanischen Schätzung 75 Prozent der in den USA angewandten Heilverfahren in ihrer Wirksamkeit ungenügend erforscht.

Die entscheidende Frage, deren Beantwortung auch den gesamten Streit um die Alternativmedizin auf einen Schlag klären könnte, lautet, auf welchen psychophysikalischen Wegen der Placebo-Glaube wirksam wird. So unterschiedlich die verschiedenen Therapieformen der Alternativmedizin sein mögen, fast alle behaupten, daß ihre Heilerfolge durch Beeinflussung eines immateriellen Schwingungsfeldes, einer Aura, eines Energiekörpers zustande kommen. Ob Akupunktur, Reflexzonenmassage, Homöopathie, ob massierende Reiki-Hände oder schwingende Blüten-Essenzen — wird der Energiekörper erfolgreich ausbalanciert, so die Methode, gesundet der physische Körper von selbst.

Natürlich trifft auf die Geistheiler und Aura-Masseure dasselbe zu wie auf den Pharma-Fast-Food-Doc an der Ecke: auch sie heilen mit Hilfe des Placebo-Effekts. Die Frage ist nur, ob zu tatsächlich hundert Prozent, wie die orthodoxe Wissenschaft behauptet — und behaupten muß, denn dieser Energiekörper ist unsichtbar, und die scheinbar absurden Manipulationen, die HeilerInnen an ihm vollbringen, sind im Rahmen der geltenden Naturgesetze nicht überprüfbar. Auch wenn viele Praktiker über die Fähigkeit verfügen, den Energiekörper bei anderen Menschen wahrzunehmen und dies zur Diagnose nutzen wie der normale Arzt das Röntgenbild — derlei Sensitivität ist nicht beliebig reproduzierbar wie ein Röntgenapparat und gilt deshalb als unwissenschaftlich. Die Psychoneuroimmunologie, die den Placebo-Effekten auf der Spur ist, wird indessen nicht ausreichen, um zu einer theoretischen Grundlage für die alternative „Energie-Medizin“ zu kommen. Um wirklich erklären zu können, was an der Schnittstelle zwischen Bewußtsein und Körper, Geist und Materie vor sich geht, bedarf es einer Revolution der Physik. Seit Einstein wissen wir, daß Materie ein Äquivalent zu Energie ist — einem Einstein der Zukunft ist die Erklärung vorbehalten, in welcher Form sich Energie in Materie verwandelt — und dem Glauben ermöglicht, Berge zu versetzen.

Mathias Bröckers