DAS EPIPHÄNOMEN

■ Die Wahrheit über Walter Jens

Besorgte Leser stellen uns die Frage: Wer oder was ist Walter Jens? Wir wollen hier nicht vorgreifen. Nur soviel: Streng genommen gibt es ihn gar nicht. Er ist eine Erscheinung („Epiphanie“), genauer: eine Mode-Erscheinung, die immer zu Festtagen auftaucht, um die Festrede zu halten. Der Einfachheit halber hat man ihr den Namen „Walter Jens“ gegeben.

Mit der Zeit haben wir uns mit diesem Epiphänomen angefreundet. Hat Kafka Geburtstag, so redet es über Kafka, ist gerade Mozart gestorben, redet es über Mozart. Einer muß es ja machen. Mit einer, er würde sagen: „stupenden“ — also mit einer stupenden Regelmäßigkeit kommt er bei allen Anlässen zum gleichen Ergebnis, das, wir wollen es hier nur ganz knapp wiedergeben, er mit den Worten „Grrroßarrtig, aberr auch furrchtbar“ zu umreißen pflegt. Marx, Freud, Beethoven, die Bibel, Brecht, Aischylos: alles großartig, aber auch furchtbar.

Aber nicht um solch hohe Dinge soll es hier gehen, sonderm um die kleinen Nebensächlichkeiten, die im Leben eines solchen Phänomens doch auch eine Rolle spielen mögen. Zum Beispiel das Bier, von dem Jens sagt, er habe davon in seinem ganzen Leben „vielleicht eine Flasche getrunken“. Vielleicht eine Flasche! Oder doch zwei? Diese sublime Spannung, diese Schwebe, in der er den Hörer dieser Mitteilung beläßt! Andere sagen, er sei einfach ein Schlamper, rein philologisch gesehen. Oder, das erinnere sie an den Mann, der „vielleicht einmal“ mit seiner Frau geschlafen habe. Unverschämt!

Jens aber kann das nicht fuchsen. Er hat ja seine Inge. Er hat auch ein Stück geschrieben: Die Friedensfrau. Großartig. Aber auch furchtbar. Sowieso fragen sich alle, wie er das überhaupt macht, zu jedem Gedenktag rechtzeitig so eine Rede fertigzureden oder ein Stück zu stückeln. Dieser Fleiß! Und immer dieser hohe Ton! Dieses Jubilate! Lange Schachtelsätze! Das will gelernt sein. Dafür hat er seine Inge.

Für eines ist das Phänomen Jens außerdem noch berühmt: Da streicht sich unser Jens also mit dieser unnachahmlichen Geste die Haare aus der Stirn, jawohl, diese Geste, die einmal ein akademischer Kollege, als er eine Laudatio auf Jens halten sollte und ihm partout nichts einfiel, geradezu in den Mittelpunkt seines Aufsatzes stellte — und streicht sich also die Haare aus der Stirn. Naja.

Abends geht Jens mit dem Phänomen Küng spazieren, denn zufällig wohnen beide Phänomene in Tübingen. Sie sinnen dann über ihr neues Buch nach: Jesus. Lenin. Beckenbauer. Großartig! Sie lachen und beschließen, daß sie mit diesem Thema auch die Tübinger im sogenannten „Studium generale“ traktieren könnten. Und dabei sehen sie dann aus wie Bouvard und Pécuchet.

Eines muß man zu Jensens Ehre aber nun doch noch erzählen: Jahrelang hatte Professor Jens im Landestheater ein Premierenabo, und jahrelang mußten wir wegen dieses bescheuerten Abos hinter ihnen sitzen, weiß der Teufel warum. Und immer haben Jensens an der falschen Stelle gelacht, meistens gleichzeitig.

Das hat uns über manch' trübe Stunde hinweggeholfen.

DIEWAHRHEITÜBERWALTERJENS