Im Dschungel der Vielfalt

■ David Recks umfassende Darstellung der „Musik der Welt“

Ravi Shankars Auftritt auf dem Woodstock-Festival 1969 war symholhaft: Der Westen hörte dem Osten zu, und man verstand sich. Im Sitarspiel des indischen Ragameisters schien die Idee von der Musik als Weltsprache Realität zu werden, im Geiste von „Love, Peace and Understanding“ glaubte man in ihr ein universelles Verständigungsmittel gefunden zu haben. Die Musik — ein Esperanto der Töne, mit dessen Hilfe man kulturelle, religiöse und soziale Barrieren überspringen kann?

Wie so viele andere Hoffnungen des Hippiezeitalters blamierte sich auch dieser Gedanke vor der Wirklichkeit. Der Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen im Medium der Musik entpuppte sich als diffizile Angelgenheit. Die „Weltmusik“- Versuche kamen oft über belanglose Oberflächlichkeiten nicht hinaus (wie etwa die Sessions von „Jazz meets the World“ zeigten, wo Jazzmusiker mit Ethnomusikern improvisierten), die verwirrende Erfahrung war zu machen, daß, je näher man der Musik eines anderen Kulturkreises kam, sie einem desto fremder wurde. Langsam sickerte das Wissen ins Bewußtsein, daß nur wenige Musikkonzepte der Welt mit den westlichen Systemen kompatibel sind. In musikalischer Hinsicht beginnt hinter dem eigenen Gartenzaun nach wie vor Fremde — eine Wildnis, die sich als Irrgarten der verschiedensten lokalen, regionalen, sozialen und religiösen Musikkulturen darstellt. Leicht kann es einem passieren, daß man vor lauter Bäumen den (Ur-)wald nicht mehr sieht (und umgekehrt).

David Reck, ein amerikanischer Komponist, Musiker und Musikethnologe, hat ein dickes Buch geschrieben, das den Versuch unternimmt, Pfade durch diesen Dschungel der Musik der Welt (so der Titel) zu bahnen. Um sich bei diesem Vorhaben nicht im Labyrinth der Details zu verirren, hat er seinem Untersuchungsgegenstand ein Strukturgitter unterlegt: Reck unterteilt die Welt der Musik nach mythologischen, geographischen und kulturellen Gesichtspunkten einerseits, andrerseits untersucht er ihre Bausteine (Instrumente, Rhythmus, Melodie, Klang) und Bauprinzipien (Polyphonie, Heterophonie). Zwischen die Gitter dieses Rasters hat der Autor eine Fülle von Anschauungsmaterial eingeflochten, das die trockene Theorie mit einprägsamen Beispielen, sowie zahlreichen Fotos ausstaffiert. Reck kann dabei aus einem enormen Fundus musikethnologischen Wissens schöpfen, das er aus den verschiedensten Musiken zusammengetragen hat. Nichts ist ihm unbekannt, weder der Gesang der Pygmäen noch die Polyphonie der Kirchenmusik der Renaissance, nicht die Gamelan- Percussion Balis noch die Bluegrassmusik der amerikanischen Appalachen. Er kennt sich musikalisch in Afrika genauso gut aus, wie in Asien oder im Vorderen Orient.

Für den musikinteressierten Laien liest sich das alles hochinteressant und wird dazu in einfacher, verständlicher Form dageboten (wobei geographische Schaubilder wertvolle Dienste leisten). Selten überschreitet der Autor die Grenze, ab der seine Verallgemeinerungen banal werden. Zum Ausgleich dafür bietet er inhaltliche Tiefenbohrungen. In ausführlichen Exkursen behandelt Reck etwa die Welt der Spielleute, die Tonsysteme der Welt oder die Musik Japans und Chinas — Ausführungen, die allerdings manchmal sachlich ungenau sind. Präzisere Fakten und weniger blumige Erzählungen hätten den Wert der Publikation gesteigert. Außerdem genügt das Material nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen.

Ein Manko, das vor allem dann deutlich zutage tritt, wenn es um Ursachenforschung geht. In der Ergründung spezieller musikalischer Phänomene liegt gewiß nicht die Stärke des Buches. Oft hat der Autor nicht viel mehr anzubieten als Trivialitäten. Das kommt daher, daß Reck einem der fundamentalsten Unterschiede in der Geschichte der Musik, dem zwischen schriftlichen und mündlichen Musiktraditionen, wenig Beachtung schenkt. Eine Divergenz, die zur Erhellung melodischer und harmonischer Strukturphänomene ergiebig gewesen wäre.

Das größte Plus des Buchs ist — neben seiner Materialfülle und dem schlüssigen Aufbau — Recks Enthaltsamkeit, was eurozentristische Überheblichkeit anbelangt. Eine Fuge von Johann Sebastian Bach hat in seinem musikalischen Weltbild den gleichen Stellenwert wie das Lied eines afrikanischen Ziegenhirten. In beiden Fällen handelt es sich für ihn um Musik, die nur aus sich selbst heraus zu begreifen ist: aus internen Faktoren und ihren externen Einbindungen in die Kultur, die Religion und die soziale Welt, in der sie lebt.

Allerdings schießt Reck dann übers Ziel hinaus, wenn er einer Art umgekehrten Eurozentrismus das Wort redet. Viel Energie verwendet er auf den Beweis, daß „die Musik vieler Völker... technisch gesehen durchaus komplexer (ist), als die Musik Europas“ — ein unsinniges Unterfangen, weil es den Spieß (Komplexität als Wertmaßstab) nur umdreht, anstatt ihn — weil untauglich — wegzuwerfen. Ob sein Gesang komplex ist oder nicht, kümmert den Schamanen so wenig wie den Sänger einer Hardrockband, weil sie beide an etwas anderem interessiert sind. Zum Verständnis dieses „Anderen“ allerdings leistet Recks Buch einen nützlichen Beitrag. Christoph Wagner

David Reck: Musik der Welt , Rogner & Bernhard bei Zweitausendundeins. Hamburg 1991, 372 Seiten, 44D-Mark.