Auch ohne Forelle gelungen

■ »Die Macht der Gewohnheit« von Thomas Bernhard in der Tribüne

Der Zirkusdirektor Caribaldi träumt seit 22 Jahren davon, ein einziges Mal nur das Forellenquintett von Schubert fehlerfrei in der Manege darbieten zu können. Da er ein Quintett schlecht alleine bestreiten kann, hat er weitere Artisten gezwungen, an diesem Kunstereignis teilzunehmen. Zynisch ignoriert er die Fluchtversuche des Violine spielenden Jongleurs, der gefälschte Angebote großer Zirkusnummern präsentiert. Seine Enkelin, die in dieser Runde ihre an einem Unfall verstorbene Mutter ersetzen muß, wird von ihm mit endlosen Übungen des richtigen Verbeugens vor den Zuschauern gequält. Sein Neffe, der Dompteur, ist meistens sturzbesoffen und versucht des öfteren, das Klavier zu zerstören, damit er nicht mehr spielen muß, und dem Spaßmacher, der eher traurig als komisch ist, fällt ständig die Kappe vom Kopf. Doch auch wenn alle das Leben hassen, es muß gelebt werden; und auch wenn alle mittlerweile das Forellenquintett hassen, es muß gespielt werden. Verstehen Sie?

Auf der Bühne von Oliver Brendel sind neben dem Klavier drei Stühle und Notenständer zu sehen. Im Hintergrund befindet sich eine Holzwand mit gerahmten Erinnerungen aus früheren Zeiten, die von einer Zeltplane fast gänzlich verdeckt werden. Der herrische Herr Caribaldi (Horst Schultheis als überzeugendes Ekel) zeigt durch wiederholtes Fallenlassen des Kolophoniums, daß in seinem Zirkus nicht nur die Tiere dressiert sind: artig hebt der Jongleur in Samt und Seide (ein glaubhaft gebrochener Charakter: Reinhard Scheunemann) es immer wieder auf und gibt dazu noch kluge Ratschläge. Caribaldis Enkelin im Ballettröckchen (anmutig präsent: Maxi Biewer) darf kaum den Mund öffnen, um zu sprechen, dafür aber alle anfallenden Arbeiten verrichten und ihrem Opa das Fußbad kredenzen. Der verwundete Tierbändiger im Gladiatorenkostüm (Bernhard Howe mit proletarischem Einschlag) wirft dem abgestürzten Clown (melancholisch: Winfried Heilmann) ab und zu ein Häppchen Rettich als Nahrung zu: Herr und Hund! Alle wollen fliehen, doch niemand traut sich; alle sind unglücklich, doch niemand ändert etwas daran: die Macht der Gewohnheit. Doch morgen...

Vordergründig geht es in diesem Stück um nicht vorhandene Disziplin und dilettantische Kunst, hintergründig jedoch um die Positionierung von Macht im Familienbetrieb und den Wunsch, in einem mißglückten Dasein wenigstens einmal etwas zu erschaffen: Musik als Therapie. Aber der Versuch mißlingt, und auch diese Musikprobe ist zum Scheitern verurteilt. Zum Schluß bleibt nur das Radio, um wenigstens ein paar Takte des Forellenquintetts zu hören. Doch das Leben geht weiter.

Unter der Regie von Burkhard Meise entfalten die Schauspieler die kleine Welt des alltäglichen Horrors: Monomanie und Eifersucht, Wunschdenken und Frustration. Der verzweifelte Kampf auf der Hühnerleiter und der Wunschtraum, jemand zu sein, beherrschen das Geschehen. Mit geringem Aufwand und reduziertem Spiel entsteht eine konzentrierte Atmosphäre, die eine adäquate Umsetzung der Textvorlage darstellt.

Thomas Bernhard wird auf der Rückseite des Programmheftes mit dem Satz zitiert: »Das Theater ist eine von vielen Möglichkeiten, es auszuhalten, nicht wahr?« Nach der Aussage dieses Stückes aber erschöpft sich dieses »Aushalten« durch Theater oder jede andere Kunst in der Illusion der Hoffnung auf etwas Besseres, was da kommen mag, aber niemals wirklich eintrifft. So bleibt nur das alltägliche Delirium der Träume und das nüchterne Erwachen in der Hoffnungslosigkeit der Existenz, die natürlich ignoriert wird, ja ignoriert werden muß. Und all dies aus Gewohnheit.

Die Tribüne hat mit dieser Hinwendung zum »ernsten« Theater nach der erfolgreichen Produktion Unsere Republik bewiesen, daß nicht große Namen oder ein großes Haus mit entsprechendem Etat vonnöten sind, um gutes, glaubwürdiges Theater zu machen. Weiter so! York Reich

Weitere Aufführungen: Täglich außer montags um 20 Uhr in der Tribüne, Otto-Suhr-Allee 18, 1-10