Haben Politiker Gefühle?

Im Juni letzten Jahres, nachdem die Entscheidung für den Regierungssitz Berlin gefallen war, da floß an der Spree nicht nur der Champagner: Die Freude trieb den Berliner Politikern parteiübergreifend das Wasser in die Augen. Einen hatte es besonders stark erwischt: Den CDU-Fraktionschef Landowsky. Der war noch am nächsten Morgen derart von sich und seinen Tränen gerührt, daß er einen Reporter vor laufender Kamera ein ums andere Mal nötigte, ihm doch endlich zu glauben: Ja, auch er — Landowsky — habe in der nächtlichen Schicksalsstunde geweint , verdammt noch mal!

Was war da passiert? Die Frage: „Haben Politiker Gefühle?“ schien ja bisher leicht zu beantworten: Mit einem klaren Nein nämlich. Bundes- wie Landesparlamente galten als Horte der Sachlichkeit, die Parteien als emotionale Entwicklungsgebiete. Daß vor allem Spitzenpolitiker wahre Meister der Gefühlsverleugnung waren, erfuhren wir jeden Wahlabend aufs neue: Wer sonst brächte es fertig, nach jedem verlorenen Urnengang zunächst seinem Gegner zu gratulieren und dem Wählervolk zu danken — anstatt beiden die Pest an den Hals zu wünschen? Der innere Schweinehund eines homo politicus konnte sich allenfalls in Form hämischer Zwischenrufe mal Gehör verschaffen. Ohne Zweifel, die Gefühle unserer Spitzenpolitiker waren aufs Vehementeste blockiert.

Doch damit ist es vorbei. Man schaue nur auf den veränderten Polit- Jargon. Spätestens seit dem Einzug der Grünen ins Parlament kommt man ohne die Vokabel „betroffen“ nicht mehr aus. Inzwischen erklärt auch der Bundeskanzler, er sei sehr „sensibel für die Ängste und Sehnsüchte der Bürger“, und ein Verteidigungsminister bekundet angesichts der Rüstungsdebatte gar „Wut und Trauer“ — wodurch sich beide Politiker schon in der Wortwahl als gestandene „Empfindungs-Menschen“ ausweisen. Eigentlich kein Wunder: Gefühle sind in. Immer mehr Bürger sind auf der Suche nach sich selbst oder reden zumindest darüber. Die Zwei-Drittel-Therapiegesellschaft steht bevor — da wollen auch Regierung und Parlamentarier nicht länger abseits stehen. Allerdings reicht es bekanntermaßen nicht aus, pausenlos seine Betroffenheit zu bekennen, man muß seine Gefühle auch rauslassen.

Dabei ist Vorsicht geboten. Ein eher abschreckendes Beispiel lieferte ja beim Zusammenbruch der SED-Herrschaft der alte Stasi- Kämpe Mielke, als er vor der Volkskammer unerwartet bekannte: „Aber ich liebe Euch doch alle!“ Und wie das so ist, wenn plötzlich jahrelang Angestautes aufbricht: auch auf dem Bonner Parkett kommt nicht jeder gleich mit der „Neuen Innerlichkeit“ zu recht. Einige Betonköpfe sollen nach der ersten Begegnung mit ihrer Gefühlswelt sturzbesoffen durch den Plenarsaal gewankt sein.

Deshalb sollen — so ist zu hören — neuerdings entsprechende Selbsterfahrungsgruppen unter fachkundiger Leitung am Werk sein und unserer Politkaste emotional auf die Sprünge helfen. Mit ersten Erfolgen: Als beispielsweise Oskar Lafontaine neulich Finanzminister Waigel einen „Schleimer“ nannte, auf dessen Genesungswünsche er beim nächsten Attentat verzichten könne, da hatte er das natürlich mit seiner Aggressionsgruppe vorher durchgesprochen. „Laß es raus, Oskar!“, hatten sie ihn wohl ermutigt. „Wenigstens ein Stück weit.“

Gerade innerhalb der Regierungskoalition bleibt dagegen noch jede Menge zu therapieren. Helmut Kohl benötigt einen abgestuften Therapieplan: Zunächst müßte er sein Entbindungstrauma angehen — Stichwort: „Gnade der späten Geburt“ —, danach sollte der Kanzler seine orale Störung durcharbeiten — Stichwort „Pfälzer Saumagen“ —, und schließlich stünde seine Großvater-Identifikation auf dem Programm — Stichwort „Konrad-Adenauer-Enkel“. Ein Logopäde wäre hinzuzuziehen.

Möllemann könnte vielleicht durch ein sechsmonatiges Schweigeseminar in Tibet von Exhibitionismus und Profilneurose loskommen. Beim vorbestraften Lambsdorff hat sich dagegen offensichtlich noch kein Gewissen entwickelt, dort muß also vielleicht mit Hilfe der Psychoanalyse zunächst einmal die Über- Ich-Bildung abgeschlossen werden. Der ständig beleidigte Stoltenberg müßte in einer Primärtherapie irgendeinen diffusen seelischen Ur- Schmerz aufarbeiten. Volker Rühe hilft allenfalls noch eine emotionale Wiedergeburt durch „Rebirthing“. Bei der SPD steht es — siehe Oskar Lafontaine — nicht ganz so schlimm. Der neue Fraktionschef Klose und der Parteivorsitzende Engholm — sie liegen jedenfalls schon voll im Trend. Beide sehen immer so nachdenklich und verletzlich aus, als kämen sie gerade aus ihrer Männergruppe.

Doch verkennen wir nicht den geheimen Anarchismus, der in dieser Bewegung steckt: Irgendwann einmal nämlich, wenn die Bonner „Hardthöhe“ längst in „Weichtiefe“ umbenannt worden ist, wenn sich die komplette FDP-Fraktion wegen Labilität und Fallsucht in therapeutischer Behandlung befindet, wenn Ignaz Kiechle beim Vollwertmüsli die Tarotkarten legt und sich Norbert Blüm nur noch dafür interessiert, ob seine Energiezentren im Lot sind — kurz: wenn der gesamte Lange Eugen nur noch eins sein will: „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“ — Wer macht dann noch Politik? Peter Tomuscheit