Aus den Augen verloren

■ Filmfestival kleiner Verluste: Rotterdam

Das Gesicht einer attraktiven jungen Frau, die — ohne mit der Wimper zu zucken — eine Ewigkeit vor sich hin starrt. Ein junger Mann in Alltagskleidung, der — offenbar orientierungslos — suchend um sich schaut. Fremde. Ein Bus. Unterwegs. Ein flüchtiger Blick. Eine sachte Berührung. Hoffen auf ein zaghaftes Versprechen. Der Bus hält. Die beiden steigen aus. Weite und Leere ringsum. Man geht in entgegengesetzte Richtungen. Schranken stellen sich in den Weg. Man begegnet sich von neuem. Fast, daß man sich vereinigte. Die Wege laufen auseinander. Endgültig. Aus.

Mit dem Einsetzen der Angst, das Ziel nicht zu erreichen, verändern sich die Koordinaten von Zeit und Raum: Wird die Zeit knapp, stellt sich der Raum feindselig in den Weg, fehlt es an Zeit, wächst auch die Gefahr, die Raumorientierung zu verlieren, heißt es im Kommentar zu Franz Kafkas aus dem Nachlaß überlieferter Skizze Gibs auf! (1922). Der junge Niederländer René Hazekamp, im vorigen Jahr Preisträger des erstmalig an einen Filmemacher vergebenen „Prix de Rome“, gewinnt aus dem nur zwölfzeiligen Kafka-Text ein Bild der Trostlosigkeit und Isolation in aussichtsloser Lage: Ecce homo! In einer Mischung aus Spott und Ohnmacht gehen die beiden Protagonisten auseinander, entfernen sich voneinander wie Gestirne im Schwebezustand unendlicher Beziehungslosigkeit. Geschichten wie diese, in denen am Ende alles allein steht, aufeinander folgt, einander sucht, aber nichts ankommt.

In Bogdan Dumitrescus beachtlichem Debüt Unde la soare e frig (Da wo die Sonne kalt ist) — der ersten rumänischen Filmproduktion nach dem Sturz Ceausescus — finden ein einsiedlerischer Leuchtturmwärter und eine junge Frau an der verwaisten Küste des Schwarzen Meeres für Augenblicke zueinander, um kurz darauf im anonymen Häusermeer der Hafenstadt Constanta einander aus den Augen zu verlieren. Szenenwechsel Lateinamerika: Im Großstadtdschungel von Buenos Aires jagt der aus seinem Reservat vertriebene Indiojunge Hijo del río (Sohn des Flusses) dem Glück nach, ein für Das kleine Fernsehspiel des ZDF produzierter Erstlingsfilm des in Berlin lebenden Argentiniers Ciro Cappelari. Spotlight Südafrika: In den schwarzen Townships von Soweto gehört Mobilität zu den Überlebensstrategien, auch wenn die Liebe dabei leicht unter die Räder kommen kann. So im on location gedrehten Wheels & Deals des Südafrikaners Michael Hammon, der seit Mitte der achtziger Jahre an der DFFB studiert. Eine der schönsten Entdeckungen kam aus der mittelasiatischen Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan: Bratan (Bruder), das Debüt des erst 26jährigen Bakhtiyar Khudoynazarow, ist ein Rail-Movie, wie es unspektakulärer kaum sein kann. Der 17jährige Farruh bricht mit seinem um zehn Jahre jüngeren Bruder Azamat auf, den Vater zu suchen. Eine Odyssee durch die endlos weiten Steppen Kasachstans. Der Vater, vielbeschäftigt, wird schließlich gefunden. Die Sehnsucht jedoch kommt nicht zur Ruhe. Farruh zieht von neuem los — wohin, weiß er nicht — und springt kurzerhand auf den fahrenden Zug auf.

Bratan wird auch im „Forum des Jungen Films“ auf der Berlinale zu sehen sein. Ein „Nachspiel“, das den auf Exklusivität erpichten Festivalchefs alle Jahre Kopfweh bereitet. Sehr zum Nachteil der Film-Normalverbraucher, die nicht zu jeder internationalen Premiere jetten können. Mit Tom Kalins Swoon allerdings mußte Rotterdam hinter der Berlinale zurückstehen. Ironischerweise wurde gerade dieser Film durch das finanzielle Engagement des Rotterdamer Festivals, das mit lokalen Verleihern zusammenarbeitet, überhaupt erst ermöglicht. Kein Wunder, wenn dann Rotterdams neuer Festivaldirektor Emile Fallaux auf die Berliner Konkurrenz sauer ist. Fallaux, selbst aktiver Filmemacher (zuletzt „Videobriefe“ aus Nicaragua und Sibirien), löst den nach nur zwei Gastjahren nach Locarno abgewanderten Marco Müller im Amt ab. Stärker als sein Vorgänger will er die Intentionen des Festivalgründers Hubert Bals aufleben lassen, die Rotterdam zum wichtigsten Filmereignis der Beneluxstaaten machten. Daneben sollen Fallaux' gute Kontakte zu den regierenden Sozialdemokraten von einigem Gewicht gewesen sein. Trotz des enttäuschenden Eröffnungsfilms Modern Crimes des in den Niederlanden arbeitenden Argentiniers Alejandro Agresti stand die einheimische Presse von vornherein hinter dem neuen Mann. Mit 200.000 Zuschauern wurde ein Rekord verbucht.

In einer Zeit, wo selbst Cannes und Venedig das Low-Budget-Art- House-Movie entdecken, kehrt Rotterdam dem etablierten guten Geschmack den Rücken. Neben einer Trash-Serie (darunter Buttgereit und Schlingensief) steht das politische Engagement für den ersten kurdischsprachigen Film, dessen Produktion von den Behörden der Türkei behindert wird. Begonnen wurde in diesem Jahr die öffentliche Debatte „Limits of Liberty“ über politische Restriktionen wider die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks. Als Kafka die Skizze Gibs auf! schrieb, las er bei Kierkegaard: „Die Zeit ist nicht mehr fern, da man... erfahren wird, daß der wahre Ausgangspunkt, um das Absolute zu finden, nicht der Zweifel ist, sondern die Verzweiflung.“ Entweder oder.Roland Rust