Lady Macbeth von der Kolchose

André Engel verblüfft in Paris mit Schostakowitschs Oper  ■ Von Frieder Reininghaus

Die Opéra Bastille, zum 200.Jahrestag des Sturms auf die einst an dieser Stelle drohende Gefängnisfestung eröffnet, sollte auf einmalige Weise den Willen zur Stadterneuerung durch die Sozialisten um Präsident Mitterrand demonstrieren: Paris dürfe nicht zum Museum des 19.Jahrhunderts degenerieren und in Nostalgie verharren, sondern müsse sich — bei allem zu bewahrenden Charme — zur Metropole des 21.Jahrhunderts mausern.

Die Zwangsumsiedlung der repräsentativen Oper aus dem legendären Palais Garnier (das seitdem dem Ballett dient) in den schiffsfährenartigen Monster-Bau an der Rue de Lyon geschah unterm Primat der Politik: Demokratisch sollte das Haus durch seine 2.700 Zuschauerplätze sein und der Zukunft zugewandt durch seine Inszenierungen. Doch entgegen ihrer Bestimmung wurde in der Opéra Bastille in den vergangenen zweieinhalb Jahren nur relativ wenig Musiktheater präsentiert. Zunächst mußte der Innenausbau mit modernster Verkabelung und Rolltreppen im Personaltrakt, mit edlen Verkleidungsmaterialien und Belüftungssystemen fertiggestellt werden. Dann lähmten Streiks des technischen Personals immer wieder — und auch jetzt — den geplanten Spielbetrieb (und der sieht ohnedies nur relativ wenig Vorstellungen vor).

Ein kammermusikalisches Beiprogramm erfreut die hartnäckig Besuchswilligen in den Kellerräumen des Amphitheaters. Auch wurde in dieser Spielzeit immer wieder die Flûte enchantée aus der vergangenen Saison zelebriert — Robert Wilsons Comic-Fassung der Mozartschen Zauberflöte. Und es gab schon ein knappes Dutzend Vorstellungen von Boris Godounow. In einer etwas angestaubten Inszenierung des Stadttheaters von Bologna. Das war's dann in einer Spielzeit, die immerhin schon in den sechsten Monat gekommen ist.

Nun aber, nach einem kleinen Streik und einer Verschiebung um nur eine halbe Woche, fand tatsächlich die erste Premiere einer Neuinszenierung in der Opéra de Paris statt. Nach all den Enttäuschungen, welche das neue Unternehmen den Parisern und ihren Gästen bereitet hatte, war die Lady Macbeth des Mzensker Landkreises um so erfreulicher: ein großer Wurf, eine Übersetzungs-Tat mit hintergründiger Bosheit am richtigen Ort und mit schönen Schärfen, scharfer Schönheit. André Engel, bislang vornehmlich ein Schauspiel-Regisseur, siedelte das Stück nicht im Milieu des bürgerlich-realistischen Textes (und damit im verkommenden russischen 19.Jahrhundert) an, sondern in der Entstehungszeit der Musik, den Jahren nach 1930 in der Sowjetunion.

Die Oper von der Lady Macbeth, das zweite der drei grandiosen Bühnenwerke des Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975), entpuppte sich in den letzten Jahren als ein Schlüsselstück des modernen Musiktheaters, als die „östliche Schwester“ von Alban Bergs Lulu — diese beiden überragenden „Frauen- Opern“ stammen ja vom Anfang der dreißiger Jahre, und beide führen die gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse mit den ureigen weiblichen Mitteln aufbegehrende, triebhaft- mörderische Frau vor. Günter Krämers Berliner Inszenierung und Harry Kupfers Kölner Produktion haben den hohen Rang der Lady Macbeth unterstrichen.

„Chaos statt Musik“

André Engel inszeniert nun nicht nur die Tragödie der Jekaterina Lwowna Ismailowa, sondern die des Stückes gleich mit. Es sollte eine Trilogie über „die Lage der Frau in verschiedenen Epochen Rußlands“ eröffnen; bei der Uraufführung 1934 in Leningrad wurde es begeistert aufgenommen. Ein Jahr später war Lady Macbeth in Cleveland nicht minder erfolgreich. Doch Anfang 1936 schlug der zur Allgewalt aufgestiegene Josef Stalin zu. Er ließ den Artikel Chaos statt Musik in die 'Prawda‘ setzen und rechnete am Beispiel dieser Oper mit allem ab, was ihm an den Entwicklungen der Künste in seinem Imperium nicht paßte.

Schostakowitsch blieb, wollte er sein Leben retten, nicht viel anderes übrig, als dem Druck nachzugeben. Er zog die Lady Macbeth aus dem Verkehr, verwarf die Idee, den Zyklus fertigzustellen, und er unterlief auf seine Weise — mit der Fünften Symphonie — die von der Staats- und Parteiführung verhängte und von den Musikschaffenden verinnerlichte Ächtung der „formalistischen Musik“. Als das ZK der KPdSU ihn und sein Schaffen 1958 rehabilitierte, war die Oper von der mörderischen Lady, das Schmerzenskind, bereits im Sinn von Stalins Kritik von ihrem Urheber umgearbeitet worden: Der Text verzichtete nun auf alle Anzüglichkeiten, welche Katerina in der Originalfassung mit ihrem Liebhaber Sergej wechselt; der Mord an ihrem Ehemann wird abgemildert — als Totschlag im Affekt nun dargestellt. Der Musik kam eine Überarbeitung in traditionell handwerklicher Manier zugute: Ihre verschiedenen Teile wurden durch motivische Verknüpfungen enger verbunden. Die wahrhaft orgiastische Musik zum ersten Liebesstündchen von Sergej und der Ismailowa wurde ersatzlos gestrichen.

In Paris griff man nun, wie zuvor auch schon in Berlin und Köln, auf die ursprüngliche Fassung der Oper zurück. Der Chefdirigent an der Opéra Bastille, Myung-Whun Chung, ließ sich die Chance nicht entgehen, die Roh- und Feinheiten der Fassung von 1934 exzessiv vorzuführen. Er zeigte enormen Körpereinsatz — und die Kapelle folgte ihm vorbildlich. Das Sängerensemble um die überragende Katerina, Mary-Jane Johnson, sorgte für eine musikalisch hochstehende Interpretation des Werks. Den „sozialistischen Realismus“ auf der Bühne kopierte und parodierte der aus New York stammende Ausstatter Nicky Rieti.

Der Vorhang geht auf zur deftigen, ausschmückenden und kräftig ausmalenden Musik des Dmitri Schostakowitsch: Ackerfurchen zeigen sich in einer dem Horizont zu ansteigenden Hügellandschaft. Die Traktoristen müssen vorbildliche Arbeit geleistet haben: Die Reihen scheinen wie mit dem Lineal gezogen. Und Krautköpfe wachsen da, alle in Reih und Glied. Inmitten dieser Ordnung, der es dämmert, sitzt Katerina: die frustrierte Ehefrau, für die keine neue Zeit angebrochen ist. Das Landarbeitervölkchen gebärdet sich wie auf den einschlägigen Abbildungen aus der Zeit des dritten Fünfjahresplans oder des „Großen Sprungs nach vorn“. Was die Wirklichkeit nun für immer hinter sich lassen will, zitiert das Theater (und durchaus mit einem ironischen Unterton).

Diese Lady Macbeth also wurde verpflanzt — aus ihrer gesicherten Bürgerlichkeit, die sie Anfang der dreißiger Jahre im Namen des sozialistischen Fortschritts denunzieren sollte, in eben jenes angeblich so fortschrittliche Milieu, welches den Frauen auf dem Lande der Sowjetunion alles mögliche brachte, nur eben neue Freiheit nicht.

Katjas Lust

Minutiös-realistisch und nicht minder bösartig das zweite Tableau: die Kolchose. Die Landarbeiter sind damit beschäftigt, mit einem ungeschlachten Kran einen Eisenbahnwaggon zu entladen — vor dem Lagerhaus mit den hohen Getreidesilos und neben dem Beton-Fertigteil-Gebäude, in dessen erstem Stock Katerinas Schlafzimmer liegt. Auf den Säcken, die am Feierabend auf dem Platz liegenbleiben, entwickelt sich die Lust von Sergej, dem neu eingestellten Arbeiter, auf Katja und die von ihr an ihm. Hier entlädt sie sich ordinär. Und die Musik sagt's überdeutlich. Hier werden die Liebenden überrascht, und hier wird Sergej von Katjas Schwiegervater fast totgeprügelt. Die Inszenierung folgt minutiös der bildhaft-genauen Musik Schostakowitschs.

Die Bilder des „sozialistischen Realismus“, die dieser Lady Macbeth zugedacht wurden, funktionieren mit strikten Bühnen-Realismen. So überzeugend und doch ironisch gebrochen habe ich diese — in den letzten Jahren häufig gespielte — Oper noch nie gesehen. Da stört der Pope nicht sonderlich, der den Mord mit dem Rattengift im Pilz-Mahl durch seinen besoffenen Kopf vernebelt. Auch dieser Geistliche ist eben ein Relikt der „alten Gesellschaft“ in der neuen — und diese neue Gesellschaft ist nicht minder totalitär.

Die Fortsetzung der Liebe zwischen Katja und Sergej findet sich auf einem jener (mit großer Plastik- Plane zugedeckten und mit alten Traktor-Reifen beschwerten) Silos. Dort wird auch (fast beiläufig) Katerinas Ehemann aus dem Weg geräumt.

Diese „Transposition“ in dieses Schostakowitsch-Rußland ist höchst plausibel; erst recht das grandiose Schluß-Bild: der trostlose Marsch der Gefangenen nach Sibirien, der sie dezimieren soll. Katerina springt tatsächlich (und bestens sichtbar) in einen kleinen See, der sich in der Mitte der Bühne auftut; sie reißt Sergejs neue Geliebte Sonietka mit in die Tiefe. Beide versinken mit einem Schrei, tauchen noch einmal auf — und sind dann für immer weg. Auch das alles: hyper-realistisch. Ganz auf der von André Engel eingeschlagenen Linie, die sich durch hohen Theater-Perfektionismus auszeichnet.

Mit dieser Lady Macbeth-Inszenierung hat die Pariser Oper endlich wieder eine Attraktion. Aber es muß wohl noch etwas mehr (und qualitativ Ebenbürtiges) hinzukommen, damit sich die enormen Kosten des teuersten Opernhauses der Welt rechtfertigen.