Schelte für die westliche Konkurrenz

Nippons Politiker haben die mangelnde Arbeitsmoral als Ursache für die US-Wirtschaftsmisere ausgemacht/ Sony-Chef plädiert dagegen für höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Amerikanische Arbeiter können montags nicht arbeiten, weil sie samstags und sonntags zuviel spielen. Und freitags stecken sie weder Herz noch Seele in ihre Arbeit, weil sie mit ihren Plänen für den nächsten Tag beschäftigt sind.“ Als der frühere japanische Handels- und Industrieminister Kabun Muto kürzlich vor dem Parlamentsausschuß über die US-amerikanische Arbeitsmoral dozierte, schwang in der professoralen Rüge ein gehöriges Maß an Stolz und Überheblichkeit mit. Unter japanischen Politikern ist offenbar in Mode gekommen, so unverblümt wie selten zuvor über die Werte des Westens, und insbesondere über die der Vereinigten Staaten herzuziehen. Sogar Premierminister Kiichi Miyazawa trauerte am Montag vor dem selben Ausschuß über die „fehlende Arbeitsethik“ der US-amerikanischen Arbeiterschaft — wofür er sich freilich schon am nächsten Tag im Weißen Haus zu entschuldigen wußte.

Was aber treibt heute selbst die behutsamsten Politiker Nippons zu so weitreichenden Vergleichen über die Arbeitsmoral in Ost und West? Mag sein, daß es einige Politiker und Konzernchefs satt haben, im Westen ständig mit „Ameisen“ (Frankreichs Premierministerin Edith Cresson) verglichen zu werden. Doch gerade in Washington hatte sich die Regierung bislang aller Beschimpfungen enthalten und mit der Wirtschaftsmacht im Fernen Osten stets den guten Ton gepflegt.

Jenseits des vordergründigen Nationalismus zeigt sich ein ganz unmittelbarer Anlaß für die japanische US-Polemik: Auch in Japan stehen in diesen Wochen wichtige Lohnverhandlungen bevor, auch Japan plagen Strukturprobleme die Tarifkonflikte. So heftig wie schon lange nicht mehr ist dabei eine Diskussion um die wirtschaftliche Ziele der Nation entflammt. Wie immer geht es dabei um die Ausrichtung der japanischer Wirtschaftspolitik an Produktions- oder Konsumfaktoren und um die Frage, ob diese den Unternehmern oder den Verbrauchern dienen soll. In der Regel scheuen japanische Politiker dieses kontroverse Thema. Doch seit US-Präsident George Bush zu Jahresbeginn in Tokio seine Forderungen erneuerte, Japan möge den Binnenmarkt beleben und die öffentlichen Investitionen erhöhen, damit sich Nippons Konzerne während der derzeitigen konjunkturellen Baisse nicht wieder nur auf den Export konzentrieren, sah sich die japanische Regierung unter Druck gesetzt. Auf Bemühen der USA hatte man sich bereits verpflichtet, über die nächsten zehn Jahre zusätzliche Gelder in öffentliche Infrastruktureinrichtungen wie Parks oder Bibliotheken zu investieren. Doch nicht wenige japanische Politiker sind schon deshalb wütend auf die Vereinigten Staaten, weil sie derartige staatliche Eingriffe für Freizeit und Vergnügen in einer Leistungsgesellschaft für überflüssig halten.

Besorgt um das allgemeine Wohlergehen der Japaner müssen in diesem Jahr auch die Unternehmer sein. Nicht etwa, weil ihnen plötzlich daran läge, ihre gigantischen Profite der letzten Jahre unters Volk zu verteilen. In Japan herrscht immer noch ein für westliche Industriestaaten kaum vorstellbarer Arbeitskräftemangel. Ausgerechnet der größte japanische Automobilkonzern Toyota, der bisher als besonders kompromißloser Arbeitgeber galt, beginnt derzeit mit einem neuen Produktionssystem zu operieren, bei dem die jährliche Arbeitszeit von bisher 2.300 auf 2.000 Stunden gesenkt werden soll. Noch im letzten Jahr fehlten Toyoyta 6.000 Arbeiter. Die sollen nun mit dem Versprechen angeworben werden, daß Roboter in den neuen Fabriken alle körperlich schweren Tätigkeiten erledigen und so „Autobauen wieder Spaß mache“.

Wenn schon Toyota seinen Arbeitern Spaß vorgaukeln muß, dann nimmt es wohl kein Wunder, wenn japanische Politiker und Wirtschaftsexperten mit Ausflügen über Amerika vor den angeblichen Gefahren einer westlich freizügigen Arbeitsmoral warnen. Zudem wenn sie befürchten müssen, daß sich gerade ihr derzeitiger Regierungschef Kiichi Miyazawa als Fürsprecher eines sozialen Umbaus entpuppen könnte. „Wir müssen von der am Produzenten orientierten Gesellschaft zur Priorität für den Verbraucher und Normalbürger überwechseln“, stipulierte Miyazawa zum Jahresbeginn vor dem Parlament. „Und wir müssen von der Betonung der Effizienz zu einer größeren Beachtung von gesellschaftlicher Fairneß gelangen.“ Obwohl solche Worte nichts Neues sind, stiften sie doch aus dem Munde des Regierungschefs zusätzlichen Anreiz zur Polemik.

Keiner hat das besser gespürt als Sony-Chef Akio Morita. Er, der sonst durch den Westen zog, um die Vorteile der japanischen Arbeitsweise zu preisen, hat im Januar einen Aufsehen erregenden Artikel verfaßt, indem er seinen japanischen Unternehmerkollegen rät, „nach den selben Regeln“ wie die westliche Konkurrenz zu handeln. Dabei will Morita auch Arbeitszeit und Entlohnung nicht mehr auschließen. Kurzum: Der Sony-Chef, zugleich stellvertretender Vorsitzender des führenden Unternehmerverbandes Keidanren, predigt nun für Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung. Bei den ewigen Bewunderer des nationalen Fleiß, an denen es in Japan gewiß nicht mangelt, hat dies einige Verwirrung gestiftet.

Doch lohnen deshalb die stürmischen Wortgefechte? Keine Gewerkschaft, keine Linkspartei und keine Verbraucherbewegung verfügt derzeit über die Kraft, neue soziale Forderungen durchzusetzen. Nur die innenpolitischen Bestechungsskandale bringen die Regierung immer wieder unter Druck. Auch hier liegt ein Schlüssel für die Beschimpfungen des Westens: Solange Nippons Politiker im Skandalsumpf stecken, werden sie mangels Reformen vortäuschen, daß im Ausland alles noch viel schlimmer ist.