„Von der Leitung übers Ohr gehauen“

Seit Freitag hält im brandenburgischen Eberswalde-Finow die Belegschaft der Walzwerke ihr Werksgelände besetzt, um gegen die Stellenreduzierungspläne der Geschäftsführung zu protestieren  ■ Von Bettina Markmeyer

Eberswalde-Finow (taz) — Das Tor ist zu. Asche fliegt durch die Luft und läßt sich auf den Jacken der Leute nieder, die um den roten Lautsprecherwagen der IG Metall herumstehen. In zwei Drahtkörben brennen Holzscheite. Das Walzwerk als strukturprägender Betrieb müsse erhalten bleiben, tönt es aus den Lautsprechern.

Drinnen, in der großen Halle des Walzwerks Finow GmbH, ist es ganz ruhig. Bundweise liegen die leichten Stahlrohre zum Abtransport bereit. Für Fahrräder, Staubsauger, Möbelbeine oder Zäune wurden sie zu DDR-Zeiten gebraucht, dringend gebraucht. Es gab nie genug. Ein Großteil der Produktion ging in die Sowjetunion, ein knappes Fünftel in die alte Bundesrepublik. Im Walzwerk Finow nördlich von Berlin, das zur heutigen EKO-Stahl AG in Eisenhüttenstadt gehört, wurde mehr gearbeitet als anderswo. „Wir mußten sogar die Feiertage 'rausarbeiten“, erinnert sich Ilse Beyer, die seit 30 Jahren im Werk auf Schicht geht.

Doch jetzt ruht die Arbeit. Seit Freitag morgen halten die Finower Beschäftigten ihr Werk besetzt. Vor beiden Toren stehen Wachen. Auf dem Werksgelände, das bis an den Oder-Havel-Kanal reicht, „tut sich gar nichts“, wie ein Betriebsrat zufrieden feststellt. Zwei Jahre Ungewißheit liegen hinter den Beschäftigten, doch die Gewißheiten, die ihnen die Geschäftsleitung Ende letzter Woche präsentierte, waren ein noch größerer Schlag: von den 1.300 Beschäftigen sollen nur 650 bleiben. Weitere Rationalisierungen brächten weitere Entlassungen. „Am Ende behalten sie bloß noch 350“, prophezeit Wolfgang, Ilse Beyers Mann, der mit Kugelbauch, Backenbart und Prinz-Heinrich-Mütze das Bild eines Seebärs abgibt. Er ist Maschineneinrichter, seine Frau Ilse fing als 16jährige in der Hufeisenfertigung an — die Ware ging nach Kanada — und stieg dann auch im Walzwerk ein.

So wie Beyers geht's den meisten. Eine oder zwei Wochen im Monat können sie noch arbeiten gehen, dafür gibt es das volle Geld, für die übrige Zeit 63 Prozent. Im Finower Walzwerk verdienten sie bis zur Wende ausgezeichnet. „Jetzt“, sagt Ilse Beyer, „reicht es kaum noch.“ 700 Mark hat sie, 800 ihr Mann, wenn's hochkommt. Das Ehepaar hat drei erwachsene Kinder, die Schichtarbeit im Werk prägte den Familienalltag. Die Beyers finden die Werksbesetzung gut. Seit der Wende hat man ihnen erzählt, das Walzwerk sei „ein Filetstück“. West-Interessenten von Krupp bis Thyssen versprachen, alle Arbeitskräfte zu übernehmen und sie außer im Walzwerk in neuen Fertigungsbereichen auf dem Gelände zu beschäftigen; sie zeigten sich angenehm überrascht vom guten Zustand der Anlagen und einer vergleichsweise effektiven Produktion.

In diesem Bewußtsein haben die Beyers und ihre KollegInnen die Kurzarbeit immer als Übergangslösung verstanden, während das benachbarte Kranwerk von Eberswalde bereits zusammenbrach. Gut 300 Beschäftige wurden zwar auch im Finower Walzwerk auf Kurzarbeit Null gesetzt, doch der größte Teil arbeitete weiter, wenn auch durchschnittlich nur zwei Wochen im Monat. 180 ArbeiterInnen gingen in Frührente. Gleich nach der Wende wurden die Mosambikaner entlassen, seitdem aber niemand mehr. Statt früher über 300.000 Tonnen Stahlrohre verkaufte das Werk im letzten Jahr nur 100.000 Tonnen, da der Ostmarkt zusammengebrochen ist. Doch spätestens 1994, das versprachen Geschäftsleitung und West-Interessenten, sollte die Produktion wieder bei 250.000 Tonnen liegen. „Und man hatte die Arbeit ja auch gerne“, sagt Ilse Beyer. „Schließlich sind wir im und mit dem Werk großgeworden, altgeworden.“

„Vielleicht sind wir aber auch schon zu spät mit unserer Aktion“, zweifelt ein Ungar, der seit 20 Jahren als Kranführer arbeitet. „Genau. Wir hätten uns gleich nach der Wende so hinstellen sollen wie heute“, sagt Ilse Beyer. Sie ist wütend, weil sich die alten Parteibonzen im Werk gegenseitig die noch lukrativen Jobs, beispielsweise in der Marketingabteilung und in Leitungspositionen, zuschieben, während sie auf der Straße für ihre Arbeit demonstrieren muß. Von der Geschäftsleitung fühlt sie sich übers Ohr gehauen.

Eineinhalb Jahre lang haben die Thyssen Stahl AG und Krupp hinter den Kulissen um das Finower Walzwerk gepokert. „Ein Wirtschaftskrimi“, meint der IG-Metaller und Ex-Betriebsrat Ernst Meszbach, „in dem bisher nur das Opfer klar ist: die Belegschaft“. Bereits im Sommer 1990 wollte das Walzwerk einen Partnerschaftsvertrag mit der Thyssen Stahl AG unterschreiben, der neben der Kooperation die damals vorhandenen Arbeitsplätze abgesichert hätte. Dann stieg Krupp in die Verhandlungen ein, blieb ein Jahr im Gespräch, zog sich im Herbst letzten Jahres plötzlich zurück und überließ das Feld wieder der Thyssen Stahl AG. Thyssen sicherte die Übernahme der gesamten Belegschaft solange zu, bis die Treuhand Anfang Januar über den Verkauf entscheiden wollte. Da zauberte der Konzern ein Konzept mit nur noch 650 Arbeitsplätzen aus der Tasche. Die Treuhand vertagte die Entscheidung und bot der Geschäftsleitung des Walzwerks 50 Millionen Mark an, damit sie den Betrieb aus eigener Kraft sanieren könne.

Als nun die Geschäftsleitung Pläne vorlegte, die sich von denen der Thyssen Stahl AG kaum unterscheiden, platzte der Belegschaft der Kragen. „An diesem Punkt waren wir vor zwei Jahren schon einmal“, empört sich die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Birgit Hellenbach. Die Belegschaft fordert jetzt ein Sanierungskonzept, das neue Ansiedlungen und einen Entlassungsstopp bis Jahresende vorsieht. Vorläufig bleiben die Werkstore in Finow geschlossen.