Die Mörder kommen vor acht

4.000 Leichen pro Woche: Eine neue Studie analysiert Gewalt im TV  ■ Von Reinhard Lüke

Neben dem Verdacht, Fernsehen könne durch systematische Verblödung dem Ende der Menschheit Vorschub leisten, steht das Pantoffelkino seit jeher am Pranger, wenn es um den Einfluß von sogenannten „Gewaltszenen“ auf die kindliche Psyche geht. Nach Spekulationen, wie sie im letzten Jahr der Pädagoge Werner Glogauer anstellte, greift Klein Fritzchen nach dem Konsum entsprechend blutrünstiger Fernsehkost immer häufiger spornstreichs zum Messer, um dem mißliebigen Opa den Bauch aufzuschlitzen.

Derartigen monokausalen Kurzschlüssen hinsichtlich steigender Kriminalitätsraten unter Jugendlichen, setzte der Psychologe Bernd Schorb in einer Studie der Hamburgischen Anstalt für neue Medien vor kurzem ein Ende (die taz berichtete). Die Wirkung bestimmter Sendungen, so das Ergebnis, hängt nicht nur von deren Machart, sondern wesentlich von den individuellen sozialpsychologischen Voraussetzungen der kleinen Konsumenten ab. Kurz: Was bei Fritzchen vielleicht Aggressionen verstärkt, braucht bei Klein Erna noch lange nicht den gleichen Effekt zu haben.

Im Rahmen der dritten Medienpädagogischen Tagung der Landesanstalt für Rundfunk NRW (LfR) in Dortmund stellte der Medienwissenschaftler Jo Groebel nun in der letzten Woche erste Ergebnisse einer von der LfR in Auftrag gegebenen Studie über „Gewaltprofile im deutschen Fernsehen“ vor. Danach wurde je eine komplette Programmwoche von ARD, ZDF, RTL, Sat.1, Tele5 und Pro7 (insgesamt 750 Stunden) auf Sequenzen untersucht, in denen „eine Person... eine andere Person... bzw. auch Tiere oder Sachen mit Absicht schädigt“. Nach dieser bewußt eng gefaßten Definition machten die Forscher dabei 2.745 Gewaltszenen aus, die sich auf 582 Sendungen verteilten. In knapp der Hälfte (47Prozent) aller erfaßten Sendungen ging es also mindestens einmal gewalttätig zu. Insgesamt fielen bei dem rüden Treiben auf den sechs Kanälen binnen einer Woche rund 4.000 Leichen an. Hinsichtlich der Senderverteilung lagen die privaten Fernsehsender bei dem nekrophilen Treiben — erwartungsgemäß — weit vor den öffentlich-rechtlichen. Der Spitzenplatz fiel an Pro7 (12,7 Prozent aller Brutaloszenen), gefolgt von Tele5 und RTL; die Schlußlichter in der letzten Reihe bildeten ZDF und ARD (6,7Prozent).

Vielleicht das überraschendste Ergebnis der Studie: Gemordet wird im deutschen Fernsehen nicht etwa vorwiegend zu später Stunde, sondern vor allen Dingen zwischen 18 und 20Uhr, also genau dann, wenn erwiesenermaßen wesentlich mehr Kinder vor der Glotze hängen, als zur Kinderstunde oder am Abend.

Doch auch wenn die in sich äußert differenzierte Untersuchung (zum Beispiel nach Sendezeit, Genres etc.) mit einer Fülle von neuen Zahlen aufwartet und die schlichte „Häufung“ solcher Gewaltszenen nicht gänzlich ohne Aussagekraft ist, hinsichtlich der Frage nach deren Wirkung bringt die rein quantifizierende „Leichenzählerei“ letztlich wenig. So verwies denn auch Jo Groebel auf den zweiten Teil seiner Studie, der derzeit in Arbeit ist und sich eingehend mit diesem Problem beschäftigen wird. Schließlich spricht einiges dafür, daß bei verschiedenen Gewaltszenen auch von einem unterschiedlichen „emotionalen Wirkungspotentital“ ausgegangen werden muß. Ob Obelix mit einem Streich 100 Römer plattmacht oder in einem Thriller mit ausgeklügelter Grusel-Dramaturgie ein Mord inszeniert wird, dürfte für die kindliche Psyche nicht ganz das gleiche sein. Doch nicht nur derartigen Differenzierungen („bis hin zu einzelnen Kamerapositionen“ — Groebel) will die Studie Rechnung tragen, sondern darüber hinaus auch noch mögliche Wirkungen dahingehend unterscheiden, ob sie nun emotionaler, physischer, kognitiver und kurz- oder langfristiger Natur sind.

Wie auch immer die Ergebnisse, die im nächsten Jahr vorliegen sollen, auch ausfallen mögen, eindeutige Beweise, wie sie von besorgten Eltern und Pädagogen immer wieder herbeigesehnt werden, dürfte auch sie kaum zutage fördern. Denn je umfangreicher der Kriterienkatalog ist, mit dem man einzelnen Sequenzen auf den Zahn fühlt, desto differenzierter muß auch das Ergebnis ausfallen.

Nimmt man zu jenen — zu erwartenden — Resultaten die Erkenntnisse der Hamburger Studie hinzu, wonach die Wirkung in hohem Maße von den unterschiedlichsten Voraussetzungen auf Seiten der Konsumenten abhängt, dürfte das Ganze eher ausgehen wie das Hornberger Schießen. Unter dem Strich bliebe dann nicht die vielerorts ersehnte Bestätigung Biene Maja = gut, Knight Rider = böse, sondern vielleicht folgende „Gewißheit“: daß Klein Fritzchen nach dem Konsum eines Krimis spornstreichs dem mißliebigen Opa den Bauch aufschlitzt, ist nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht zu belegen.

Andererseits kann aber auch nicht ganz ausgeschlossen werden, daß ihn — bei entsprechender sozialpsychologischer Konditionierung — seine TV-Erfahrung animieren könnte, im Hinterstübchen schon mal das Messer zu wetzen.