DEBATTE
: Allein gegen die Akte

■ Zur Privatisierung des „Stasi-Komplexes“

Was die SED in den vier Jahrzehnten ihrer Herrschaft stets als Inbegriff ihrer Stärke ansah, das unumschränkte Machtmonopol, war in Wirklichkeit ihre größte Schwäche. Allmacht bedeutete Allzuständigkeit. Noch hinter der harmlosesten Auseinandersetzung lauerte für die Partei die Machtfrage. Das Primat der Politik verhinderte, daß die Staatsmacht einen Teil ihres Terrains freigab fürs tägliche gesellschaftliche Hickhack. Statt geregelte Verfahren zu etablieren und damit die „Kleinarbeitung“ der Konflikte zu befördern, bestand sie stets auf der Entscheidung in letzter Instanz. Diese Allverantwortlichkeit wurde ihr zum Verhängnis.

Die alten Machthaber schauen seelenruhig zu

Ganz umgekehrt die Herrschaftstechnik, mit der die Bevölkerung der neuen Länder heutzutage traktiert wird. Konflikte, die ihrer Natur nach öffentlich sind, werden privatisiert und damit der öffentlichen Auseinandersetzung entzogen. Demokratische Mitwirkungsformen etwa bei der Umgestaltung der Industriestruktur fehlen ebenso wie die Bürgerbeteiligung bei regionalen Planungen. Die Arbeitslosigkeit ist individuelles Schicksal. Was, wenngleich in bürokratisch pervertierter Form, an gesellschaftlichen Kollektiveinrichtungen existierte, wird zügig abgebaut. Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Privatisierung des „Stasi-Komplexes“. Die Errichtung der Gauck-Behörde wurde gerade von den Bürgerrechtlern der Ex- DDR als demokratischer Durchbruch, als historisches Novum in der deutschen Geschichte begrüßt. Das „Recht auf die Akten“ wurde als Vorgriff auf einen Gesellschaftszustand interpretiert, in dem der Staat generell aufs Schnüffeln und Informationshorten verzichtet.

Was aber geschieht tatsächlich? Zwischen dem ehemaligen Opfer, das allein seiner Akte gegenübersitzt, und den staatlichen Instanzen, die rehabilitieren oder in vereinzelten Fällen Täter zur Rechenschaft ziehen, gibt es keinen politischen Diskussionsraum, keine gesellschaftliche Kollektivität. Nur wenn auf Öffentlichkeit insistiert würde, bestünde die Chance, Kriterien für die Beurteilung der schwierigen moralischen Fragen zu finden, die die Verstrickung ins realsozialistische System aufwirft. Statt dessen geht es vielen der Opfer nur darum, in den Akten ihre gestohlene Biographie wiederzufinden. Wer sie verraten hat und wer ihnen die Treue hielt, wird zum alleinigen, ihr Aktenstudium leitenden Kriterium. Es geht um Vertrauen oder Vertrauensbruch. In dieser existentialistischen Sicht der Dinge bleibt das Gespräch zwischen Tätern und Opfern, wie es Katja Havemann und Irena Kukutz mit ihrer langjährigen IMF geführt haben, die einzige Form der „Bewältigung“.

Eine der absurdesten Konsequenzen der Privatisierung des „Stasi- Komplexes“ besteht darin, daß der Dienstherr des Geheimdienstes, die Machtoligarchie der SED, dem ganzen Schauspiel ebenso gelassen wie unbeteiligt beiwohnen kann. Nur die wenigsten oberen Parteimachthaber standen in den Diensten der Stasi, allenfalls lieferten sie als gesellschaftliche Mitarbeiter auf Anfrage Informationen. Untersuchungsbeamte mit unkenntlich gemachten Gesichtern werden jetzt im Fernsehen als Zeugen für Spitzelenttarnungen aufgeboten. Sie genießen weiterhin den Schutz der Anonymität. Die aber die Weisungen gaben, vom Sekretariat des ZK bis zu den Bezirkssekretären, stehen unter keinerlei öffentlichem Druck — weder moralisch noch politisch, noch strafrechtlich. Dieses ganze Verfahren ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn die Staatssicherheit das eigentliche Herrschaftszentrum innerhalb des SED-Staats gewesen wäre. In Wirklichkeit war sie nur deren wichtigstes Dienstleistungsunternehmen.

Fatale Umkehrung der nötigen Reihenfolge

Für die deutschen Medien, vor allem das Fernsehen, war die Vereinzelung der Täter-Opfer-Beziehung der Startschuß für eine bislang unbekannte Kampagne des Voyeurismus und der moralischen Selbstüberhöhung. Mit all ihrem verständlichen, gerechten Zorn über ihre ehemaligen Peiniger wurden die im Fernsehen porträtierten Opfer nur zum Material, das den Heißhunger des Publikums nach Intimität zu stillen hat. Wer der Aufmerksamkeit der Medien sicher sein kann, wie der Namenspate der Gauck-Behörde, bedient dieses Konsumbedürfnis auf völlig unverantwortliche Weise. Wo Zurückhaltung geboten wäre, ergeht sich Pfarrer Gauck, ein honoriger, ehrlich um Aufklärung bemühter Mann, in halben Anschuldigungen und halben Entlastungen. Er wirkt mit am Medien-Bild der Ex-DDR als moralischem Sumpfgelände. Dabei müßte der Seelsorger doch wissen, daß die Talk-Show wahrscheinlich der ungeeignetste Ort ist, um über die Frage von Verantwortung und Schuld der Stasi-Spitzel zu räsonieren. Was hilft es da noch, wenn Rainer Kunze zu bedenken gibt, daß es auf den Einzelfall ankommt, mithin IM nicht gleich IM ist?

Wir erleben eine fatale, wenngleich für die politische Klasse der Bundesrepublik äußerst nützliche Umkehrung der Reihenfolge dessen, was eigentlich notgetan hätte. Am Anfang hätte die Rehabilitierung der politisch Verfolgten stehen müssen, gefolgt von der zügigen und abschließenden Überprüfung der Staatsbediensteten in „sensiblen“ Bereichen wie denen der Schule oder der Justiz. Gleichlaufend wäre es darum gegangen, eine gesellschaftliche Bewegung ins Leben zu rufen, die, ähnlich der Erstellung der „cahiers“ in der französischen Revolution, die Unterdrückung in allen Bereichen der Ex-DDR zu dokumentieren gehabt hätte. Diese Bewegung hätte in einem Tribunal münden können — ausdrücklich ohne Strafbefugnisse. Unter diesen Voraussetzungen wäre jene Eile überflüssig gewesen, mit der unsere Staatsanwaltschaften ihre Anklageschriften fertigten — übrigens wiederum unter Umkehrung der richtigen Reihenfolge.

All dies getan, hätte man gelassen die Frage abwägen können, ob ein „Recht der Opfer auf die Akten“ der vernünftigste Weg der „Vergangenheitsbewältigung“ gewesen wäre. Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs selbstverständlich. Die polnischen Demokraten beispielsweise haben sich — mit einigen Ausnahmen — für den „dicken Schlußstrich“ entschieden. Sie kamen zu dieser Auffassung, weil sie bei der Abwägung kollektiver und individueller Interessen der Idee des Rechtsfriedens den Vorzug gaben. Bei uns, im Milieu der Demokraten, behinderte die Angst, daß ein zweites Mal in diesem Jahrhundert Schuld und Verantwortung des einzelnen kollektiv verdrängt werden, jede allseitige Diskussion. Daß das schließlich eingeschlagene Verfahren fragwürdig ist, schimmert noch in dem Entschluß der Gauck-Behörde durch, führende Vertreter der Bürgerbewegung als erste in die Behrenstraße zu bitten. Ist doch bei ihnen wenigstens rudimentär ein politischer Diskussionszusammenhang erhalten geblieben.

Die Tribunal-Initiative kommt wohl zu spät

Hätte... würde... — jammern hilft nichts. So sehen es auch die Anhänger der Tribunal-Konzeption. Sie unternehmen jetzt, 1992, den verzweifelten Versuch, der Beschäftigung mit dem „Stasi-Komplex“ die politische Dimension zurückzugeben. Ihre Anstrengungen zielen darauf ab, das gesamte Unterdrückungssystem des Parteistaats DDR zu thematisieren. Diese Initiative ist wichtig, wenn sie auch wahrscheinlich zu spät kommt. An uns, den westdeutschen Freunden der Bürgerbewegung in den neuen Ländern, wäre es, zu diesem Versuch der „Repolitisierung“ beizutragen. Zum Beispiel dadurch, daß wir den „Fall Stolpe“ zum Anlaß einer Diskussion nähmen, die den brandenburgischen Ministerpräsidenten als Mitakteur der Ostpolitik in den 70er und 80er Jahren sieht. Seine politische Arbeit zu beurteilen, hieße dann, die Politik dreier westdeutscher Regierungen gegenüber der DDR aufs neue kritisch zu überprüfen. Christian Semler