Alle Leichen aus dem Keller: Italien wählt

Ein Brief des KP-Führers Togliatti von 1943, eine Einmischung von Papst Pius XII. 1941, verschwundene Moro-Briefe: alles ist wichtiger als das heraufziehende soziale Desaster/ Massenarbeitslosigkeit und ein marodes Gesundheitswesen  ■ Aus Rom Werner Raith

Was den Deutschen ihre Stasi-Bewältigung, ist den Italienern derzeit ihr Palmiro Togliatti. Der 1964 gestorbene langjährige KP-Führer soll sich 1943 geweigert haben, zugunsten von zum Hunger- oder Füsiliertod verurteilten italienischen Soldaten in Stalins Lagern zu intervenieren. Das jedenfalls geht aus einem in einem Moskauer Archiv aufgefundenen handschriftlichen Brief des KP-Mannes an einen Genossen hervor. Mehr noch: Der Tod dieser etwa 20- bis 25.000 Alpenjäger sei „für ihre Familien ein wirksames Gegengift gegen den Faschismus“, so der O-Ton des damals hochrangigen, im Moskauer Hotel Lux residierenden Führungsmitglieds der Internationale. Der Brief kommt den Konservativen gerade recht — schließlich wird in Italien im April gewählt, und auf das Wähler-Erbe der 1991 aufgelösten Kommunistischen Partei spekulieren so ziemlich alle Gruppen, Faschisten eingeschlossen. Doch man wußte schon seit Jahren, daß Togliatti keineswegs die verkörperte Menschlichkeit und politische Tugend darstellte.

Vorwürfe gegen Togliatti schon lange bekannt

Der Publizist Giorgio Bocca hat bereits vor fünzehn Jahren ein vielbeachtetes kritisches Opus über den KP-Mann geschrieben. Eine der Folgen: Ende der 80er Jahre begann innerhalb der Partito comunista italiano (PCI) eine massive Demontage des Stalin-hörigen Parteileiters. Einer der Vorwürfe bezieht sich darauf, daß er offenbar recht wenig getan hat, den von den Faschisten internierten todkranken Parteigründer und Vordenker Antonio Gramsci herauszuholen. Ein anderer, Teile der unmittelbar nach dem Krieg in der Emiglia Romagna stattgefundenen Ermordungen ehemaliger faschistischer Bonzen und Kollaborateure habe er stillschweigend geduldet. Der nun aufgefundene Brief eignet sich offenbar besonders, nationale Emotionen zu schüren und auch noch die junge Generation der Linken mit dem Erbe der Großväter zu belasten. Die aus dem aufgelösten PCI hervorgegangene „Demokratische Linkspartei“ (PDS) sieht sich an die Wand gedrückt und lamentiert nur noch über die „Instrumentalisierung der Vorvergangenheit“ (so Parteichef Achille Occhetto). Die verbliebenen Altkommunisten der „Rifondazione comunista“ suchen das Heil in der Gegenattacke und weisen darauf hin, daß auch die Konservativen mit guten Drähten zu den Alliierten nichts getan haben, um die Bombardierung wehrloser deutscher Städte zu verhindern. Einige von der Kampagne angewiderte Journalisten versuchen gegenzusteuern. So brachte der erste, den Christdemokraten zugerechnete Fernsehkanal RAIUNO eine ausführliche Dokumentation über den Schlingerkurs von Papst Pius XII. gegenüber den Faschisten und Hitler, gewürzt mit Dokumenten, die belegen, wie der Heilige Vater die deutsche Widerstandsbewegung gefährdete.

Wahlkampf in Italien. So völlig abgekehrt von allen Problemen der Gegenwart haben sich die Parteien und die Aspiranten auf Parlamentssitze noch nie präsentiert. Die Presse folgt ihnen dabei nahezu geschlossen. Da hört man kein Wort mehr über das seit Jahren total zusammengebrochene Gesundheitswesen. Da ist das soziale Netz nicht nur eingerissen, sondern zerrissen — das Gesetz über Pensionierungen und Altersversorgung wurde bis heute nicht verabschiedet. Da haben die beiden Häuser des Parlaments einen Haushalt verabschiedet, der schon während der Beratungen sechsmal korrigiert werden mußte und mittlerweile Löcher in Höhe von umgerechnet 40 Milliarden DM aufweist. Da will die Großindustrie, vom High-Tech- Konzern Olivetti bis zu FIAT, Zehntausende von Leuten entlassen. Doch viel, viel wichtiger sind die Leichen im Keller. Mehr als eine Woche beschäftigte die italienischen Minister beispielsweise die Frage, wo Mitschnitte über die Entführung des christdemokratischen Parteichefs Aldo Moro hingekommen sind. Die Politiker stritten ausgiebig darüber, ob dieser oder jener Präsident der Republik ein ehrenwerter Mann war. Historiker feilschten um die Frage, wer denn nun das eigentliche Erbe der vor hundert Jahren gegründeten Sozialistischen Partei verkörpere.

So bilden sich außerhalb der offiziellen Politik erstaunliche Koalitionen. Die Wirtschaft sucht im Verein mit den bisher eher antisozialistischen Umweltschützern noch etwas vom Sozialismus zu retten, verweist auf die Verdienste Marx' und Engels' und erinnert auch die Gewerkschaften an ihre einst gesellschaftsgestaltende Rolle. Manager und Firmeneigner treten auf Kongressen der kleinen Grünen Partei oder der Rifondazione comunista bereits lieber auf als bei den Großparteien. Hier, so jüngst unisono Sprecher der mittelständischen Vereinigungen Confesercenti und Coldiretti, könne man „noch inhaltliche Fragen und Probleme der Zukunft diskutieren, die uns wirklich angehen“.

Und als Präsident Francesco Cossiga eine Historiker-Kommission nach Moskau schicken wollte, um die „Authentizität der Briefe“ feststellen zu lassen, zogen ihm der linksliberale 'Corriere della sera‘ und die industrienahe 'La Stampa‘ unisono die Ohren lang: „Seid wachsam, ihr Politiker, vielleicht tönt es auf den Ruf ,Auf nach Moskau‘ von dort nur zurück, ,Auf zu den Urnen‘.“ Daraufhin verzichtete Cossiga auf die Historiker-Entsendung und behauptet nun, „der Widerstand gegen meine Initiative“ sei „wieder mal ein Zeichen, wie tief die kommunistische Kultur uns bereits verseucht hat“.