Mielke-Prozeß: Lederhut hinter Panzerglas

Berliner Justiz zeigt sich entschlossen, die Mordanklage von 1934 gegen Erich Mielke bis zum bitteren Ende zu verhandeln/ Verteidiger stellen zwei Anträge auf sofortige Einstellung des Verfahrens wegen fehlender rechtlicher Grundlagen  ■ Aus Berlin Götz Aly

Protestfolklore vor den Portalen des Kriminalgerichts in Berlin-Moabit: „Freiheit für Erich Mielke“, „Hände weg von den Grenzschützern und von Honecker“, „Schluß mit diesem obszönen Prozeß“, fordern Plakate, fordert eine Frau per Megaphon namens einer Organisation, die sich „Spartakist“ nennt. Im Gebäude: Fernsehkameras auf allen Rängen, Menschentrauben. „Lassen Sie den Schöffen durch, ohne den läuft sowieso nichts!“ Der Arzt bleibt stecken, sein tragbares Reanimationsgerät verfängt sich zwischen den Beinen eingekeilter Prozeßbeobachter. Doch dann ist es soweit: Heute — wie schon einmal im Jahr 1934 — begann der Strafprozeß im Saal 700. Zur Verhandlung steht Mord.

Die drei Richter und zwei Schöffen treten ein, das Reanimationsgerät ist in Stellung gebracht, der Arzt hat eine strategisch günstige Position eingenommen, die Augen mindestens eines Wachtmeisters ruhen ständig auf dem Angeklagten, zweimal während der knapp eineinhalbstündigen Verhandlung wird sein Puls gefühlt: „In Ordnung?“ Wir verhandeln weiter!“ Angeklagt ist der letzte Stasi-Chef der ehemaligen DDR. Vorgeworfen wird ihm die Beteiligung am Mord an den beiden Polizeioffizieren Lenck und Anlauf im Sommer 1931. Die Anklageschrift erarbeiten Berliner Staatsanwälte im Jahr 1934. Hinter der Balustrade, in einer Panzerglaskabine, die man auf dem Höhepunkt der Mahler-Baader-Meinhof-Hysterie eingebaut hat, soll der Angeklagte sitzen. Sichtbar ist nichts als ein brauner (Kunst?)Lederhut. Stellt man sich auf die Zehenspitzen, kann man ein Stück anthrazitfarbener Herrengarderobe erblicken. Der Angeklagte sitzt nicht im Rollstuhl, ist nicht festgeschnallt, vielmehr hat er auf einem grünlich gepolsterten Senatsmöbel (Stahlrohr, sitzphysiologisch extrem ungesund) Platz nehmen müssen, den Kopf vornüber auf das Aktenpult gelegt. Manchmal schwankt er bedenklich, doch dann spricht er — wieder Erwarten — ein lasches „Ja“. „Sind Sie Erich Mielke?“ hatte der Vorsitzende Richter Dr. Theodor Seidel gefragt. Doch erwartungsgemäß bleibt der Angeklagte dann die Antwort auf die Frage nach seinem Geburtsdatum schuldig. Nicht unfreundlich, aber entschlossen, gibt der Vorsitzende zu bedenken: „Herr Mielke, ich muß Sie darauf hinweisen, daß ein Mensch, der nicht weiß, wann er geboren wurde, an einer schweren personellen Orientierungsstörung leidet. Eine solche Störung hat bisher kein Gutachter bei Ihnen festgestellt. Zur Not verlesen wir einfach die Geburtsurkunde.“

Und malt und malt mit weißer Hand...

„Kann so ein Mann ruhig schlafen?“ fragte 'Bild‘ gestern und blieb die Antwort schuldig. Aber taz war dabei: Schwer warf er sich in der Nacht von Sonntag zu Montag auf seinem Bett im Westberliner Haftkrankenhaus von einer Seite auf die andere. Alpträume schüttelten ihn, mal träumt es ihm russisch, mal deutsch, dann wieder französich und spanisch. Haltlos stürzt er durch die Abgründe seines politischen Lebens: von der Stettiner Straße im proletarischen Herzen Berlins zum Kommunistischen Jugendverband. Blutmai 1929. Partei-Selbstschutz, Schußwaffenausbildung im Wald. Und da! Da malt einer, malt mit weißer Hand Schattengestalten an die Wand: Leichen eines Jungarbeiters und zweier Polizisten, der eine frontal, die beiden anderen einen Tag später vor der KPD-Zentrale erschossen... „Jetzt hängen sie mir auch das noch an!“ delirierte der schlafende Greis. „Ich will hier raus! Ich, die Unschuld selbst, seit eineinhalb Jahren in den Klauen der Klassenjustiz...“ Dann stürzt er wieder, Schweiß tritt ihm auf die Stirn: Flucht nach Moskau, Lenin-Schule, grundlegende Parteierfahrung auf den Zuschauerbänken der Moskauer Prozesse der Jahre 1933 bis 35. Spanien 1936. „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft“, röhrt es unter der Bettdecke. „Ich, der Held der inneren Front! SIM, Servicio de Investigación Militar!“ Der stalinistische Geheimdienst hinter der Bürgerkriegsfront: „Warum nur“, lispelt es durch die Zelle, „konnten wir diese Agenten, diese Anarchisten, Linkskommunisten, diese Verräter im Schafspelz des Sozialismus nicht alle liquidieren? Ach wie gut, daß keiner weiß, daß ich auch Fritz Leissner heiß.“ 1939 Exil in Belgien, 1940 Flucht nach Südfrankreich. 1945 dann wieder nach Berlin zurück: gewissermaßen „an der Seite der siegreichen sowjetischen Brüder“. Dann wieder die innere Front: Macht, immer mehr Macht — „Ich liebe euch doch alle, alle, alle, alle.“

Das Gefängnisbett quietscht, das atemlose Murmeln wird lauter: „Ich, der immer treu gearbeitet und für unsere Sache gekämpft hat, ich soll nun Verbrecher sein?! Ein Mensch wie ich, der verschiedene Male dem Tod ins Auge sah und der doch nur wollte, daß alles in Ruhe und Ordnung vor sich geht... Unfaßbar! Weiche von mir! Cretino, Provokateur, fous le camp! Nein? Nitschewo, ich bin sterbenskrank, mein Name ist Erich, ich weiß von nichts!“

Schnellese-Wettbewerb zwecks Öffentlichkeit

Im Gerichtssaal träumte der Angeklagte weiter: „Ich kann nicht mehr!“ „Ich will hier raus!“ entringt es sich ihm in bestem Berlinerisch. Doch die Organe der Rechtspflege bleiben ungerührt. Die Verteidiger verzichten auf jedes prozessuale Trara. Gehetzt nutzen sie die knappe auf eineinhalb Stunden bemessene Verhandlungsdauer und haspeln zwei schriftlich formulierte Anträge herunter — ein notwendiges Zugeständnis an die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung. Beide Anwälte forderten die sofortige Einstellung des Verfahren. Mielkes Pflichtverteidiger, Verteidiger Hubert Dreyling, der Wert auf die Mitteilung legt, er sei FDP-Mitglied, begründete den Einstellungsantrag damit, daß die Tat auf dem Bülowplatz nicht als Mord, sondern allenfalls als Totschlag gewertet werden könne. Damit sei die Tötung der beiden Polizeibeamten unzweifelhaft verjährt. Der Haftbefehl von 1947, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Verjährung unterbrach, sei niemals rechtswirksam geworden, da es damals überhaupt keine unabhängige deutsche Justiz gegeben habe.

Mielkes zweiter Anwalt, der schmallippige Wahlverteidiger Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger, war früher gefürchteter Polit-Richter am Ostberliner Bezirksgericht Mitte. Er betonte, die 1933 wegen der Bülowplatz-Morde ermittelnden Polizei- und Gestapobeamten hätten sich damals der Mithilfe von SA und SS systematisch bedient. Die gefangenen Kommunisten gefoltert, ihnen keinerlei Rechtsbelehrung gegeben. Die Unterschriften der Verhörten unter den Gestapo-Protokollen hätten sich von einem Tag auf den anderen derart verändert, daß sie unschwer als Zeugnisse schwerster Mißhandlungen gewertet werden könnten. Wetzenstein zitierte einen Artikel aus der 'Deutschen Juristenzeitung‘ vom Mai 1933: „Die restlose Ausrottung“, hatte dort ein Landgerichtsdirektor geschrieben, „des inneren Feindes gehört zur deutschen Ehre. An ihr kann der Richter durch großzügige Auslegung der Strafprozeßordnung teilnehmen.“ Während des Vortrags dieses Rechtsanwaltes las der Vorsitzende Richter blätternd in anderen Akten. Versprach dann aber: „Wir werden das Augenmerk auf die Zeit richten müssen, in der diese Ermittlungen stattfanden. Bloß wird auch noch einiges andere zu erörtern sein, das möglicherweise sehr relativierend ist.“ Sprach's und beendete den Prozeß nach 80minütiger Verhandlung um 14.20 Uhr. Fortsetzung folgt am kommenden Montag.