Heer der Fliegen

Ilya Kabakow baut für „Das Leben der Fliegen“ den Kölnischen Kunstverein zu einem russischen Provinzmuseum um  ■ Von Jochen Becker

Nach seinem Rückbau zeigt sich der einst lichte Kölnische Kunstverein als düsteres Loch. Wo sonst ein durch Oberlicht, lange Fensterfront und Fluter hell erleuchteter Ort, wo offene, weiße und hohe Räume zur Kunst einluden, baut Ilya Kabakow vier muffige, verdreckte, katastrophal schlecht beleuchtete und niedrige Zimmer hinein. Dunkelgraue Wände mit hüfthoch reichenden braunen Schutzstreifen, Abfall in den Ecken, nackt herunterhängende und mit Alufolie abgeschirmte Glühbirnen, billig wirkende Materialien — und überall Fliegen: So zeigt sich die Hölle auf Erden, das Paradies „real existierender Sozialismus“, die Ästhetik einer weltumspannenden Verwaltung. Dringt man jedoch weiter ein in die Installation, erkennt man deren Reichtum: Der vor wenigen Jahren aus Moskau Exilierte hat mit ärmlichen Materialien im Kunstverein einen zwiebelartig umeinandergeschichteten, Kunsttheorie und Lebenswelt verwickelnden Wissenschaftskomplex gebaut.

Kaum betritt man durch die sich sofort wieder schließenden Türen Kabakows Konstruktion einer Ausstellung, steht man inmitten der Arbeit: Zum einen umschließt seine Installation den Betrachter vollkommen, zum anderen ist der Besucher aufgefordert, trotz Dämmerlicht die zahlreichen und oftmals kaum oder gar nicht lesbaren Tafeln durchzuarbeiten, möchte er hinter das Geheimnis dieser Ausstellung kommen. Im ersten Raum geht es — dies verraten Schautafeln, Texte auf schrägen Tischen und an die Wand geheftete Zettel — um die Einwirkung der Fliegen auf Ökonomie, Politik und Bildende Kunst. Schematische und statistische Zeichnungen verdeutlichen die Parallelen zwischen dem Zick-Zack des Fliegenflugs, der Entwicklung am Börsenmarkt oder der Augenbewegung bei der Lektüre moderner Poesie. Im Ton wissenschaftlicher Abhandlungen gehalten und mit internationalen Forschungsdaten unterfüttert, geben die fiktiven Ausstellungsmacher — eine Informationsabteilung U.B.S. der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zeichnet verantwortlich — Hinweise auf den Einfluß der bisher als „niedrig“ erachteten Natur auf die „höhere“ des Menschen.

Der zweite Raum — eine Übernahme der letztjährigen Installation Meine Heimat in der Berliner Galerie Wewerka & Weiss — widmet sich der Zivilisation der Fliegen: Von der Decke hängen zwei luftige Konstruktionen aus 500 Plastikfliegen am Faden, welche — glockenförmig die eine, die andere entfaltet wie eine räumliche Hieroglyphe — den Tanz der Insekten als Gesellschaftsmodell veranschaulichen. An der Wand hängen zur weiteren Verdeutlichung technische Zeichnungen, in einem Schaukasten ist die Hierarchie der Fliegen penibel dokumentiert. Im dritten Raum stehen 21 mit Zetteln belegte Notenständer als Orchester im Viertelkreis.

Der vierte und größte Raum widmet sich dem Thema Die Fliege als Ursache und Grundlage des philosophischen Diskurses. Im Saal steht ein langer Tisch mit Stühlen, damit man sich in den in Kopie ausliegenden Text vertiefen kann. An der Stirnwand umfassen 60 gerahmte Texte die Zeichnung einer Fliege, welche Zuschauermeinungen („diese Kunstrichtung nennt man ,Pop-Art‘. Zu uns kommt sowas von ,drüben‘ immer mit einer Verspätung von zehn bis fünfzehn Jahren“) zum Fliegen- Bild wiedergeben. Die deutsche Übersetzung ist als Zettel mit Stecknadeln an den Rahmen befestigt. An den übrigen Wänden hängen gerahmte und mit Postkarten aus der russischen Provinz durchsetzte Artikel eines Psychologen, eines Historikers, eines Philosophen, eines Kunsthistorikers und des Museumsdirektors.

Weit ausholend und den vorangegangenen Fachtext aus der Sicht ihres Bereichs diskutierend, knüpfen die untereinander befreundeten Wissenschaftler bei den 60 Zuschauermeinungen an. Ausgangspunkt dieses sich immer weiter potenzierenden „Lärms“ aus „Verweisen, Anmerkungen, Bezugnahmen, Meinungen, Annahmen und dergleichen“ (so der Philosoph) ist also nicht etwa eine tatsächlich untersuchte Fliege, sondern nur deren Abbildung und Kommentierung. Die gesamte Installation, rollt man sie vom Ende her auf, errichtet mit Hilfe einer nichtigen Bleistift-Fliege einen elefantösen Apparat.

Gleichzeitig entwickelt Kabakow hier, unter Zuhilfenahme der Fliege, ein Funktionsmodell von Wirtschaft, Kunst und Gesellschaft in der UdSSR. Seine poststrukturalistische Parabel Das Leben der Fliegen fordert eine ästhetische und gleichermaßen politische Betrachtung des sowjetischen Lebens. Als Westbürger tendiert man gegenüber der Fremdheit russischer Kunst zur rein ästhetischen Rezeption; die drückende Sprödheit der Kölner Installation steuert dem entschieden entgegen.

Kabakow gibt sich nicht mit der Installation als solcher zufrieden, sondern treibt in begleitenden Interviews, Darlegungen oder Katalogbüchern ihre krakenhafte Referentialität weiter. So erfahren wir, daß der vorher schon im Kunstverein Hannover installierte letzte Raum eigentlich die Neufassung einer ursprünglich für die tempelartige Architektur des Weißen Saals im Moskauer Puschkin-Museum konzipierten Ausstellung ist, welche ein Provinzmuseum nach dem Motto „Neues aus der Wissenschaft und Technik“ veranstaltet haben könnte und auf eine Ausstellung in Budapest zurückgreift.

Das Bild und dessen Kommentierung sind bei Kabakow gleichgestellt; beide hängen gerahmt nebeneinander oder sind auf einem Trägermaterial vereint. Durch die permanente Eigenbewertung und Selbstanalyse sind seine Arbeiten ungewöhnlich textintensiv und narrativ. Die Vielgestaltigkeit und gezielte Vagheit seiner Überlegungen bietet reichliche Anknüpfungspunkte für den Besucher.

„Lange Zeit betrachtete man uns einfach als nachts aus Flugzeugen abgeworfene Geheimdienstoffiziere mit Palette, die, als Künstler getarnt, besonders geheime Sabotageakte begingen.“ Im sozialen Zwischenbereich — einerseits das durchschnittliche Erwerbsleben als Kinderbuchillustrator, andererseits als inoffizieller Künstler „ständig von Arrest und Ausbürgerung bedroht“ — durchdringen sich bei Kabakow Politik, Kunst und Privatleben. Den Privilegien der offiziellen Kunst stand das Fehlen von Öffentlichkeit für die Inoffiziellen gegenüber. (Umgekehrt hatten nach Gorbatschows Öffnung der Sowjetunion nur die vormals im Privaten agierenden Konzeptkünstler Westerfolge zu verzeichnen.) Die „soziale Schizophrenie“ (Groys) der inoffiziellen Künstler verschärfte sich noch durch Kabakows jüdische Herkunft: „Ich hatte immer ein Gefühl wie ein Schwarzfahrer, der vor ,ihnen allen‘ insgesamt Angst hat.“ Seine Arbeit rekonstruiert auch nach dem Zerfall der Sowjetunion das vielfältig gespaltene, konspirative und doppelzüngige Leben der inoffiziellen Kunst in Moskau. Das Modell der Kommunalwohnung, also das erzwungene Zusammenleben buntgewürfelter Familien unter einem Dach, bleibt Referenzsystem seiner Ethnographie der SU. Aus lokalen, banalen und privaten Splittern entwickelt Kabakow einen kaum ausschöpfbaren Reichtum an Informationen, welche den Besucher wie ein oder als Fliegenschwarm umkreisen.

—Bis zum 29.März im Kölnischen Kunstverein; dort findet am 28.März um 15Uhr ein Gespräch zwischen Stefan Germer, Boris Groys, Jürgen Harten und Ilya Kabakow über Die Rezeption russischer Kunst im Westen statt.

—Literatur:

Ilya Kabakow: Das Leben der Fliegen. Kölnischer Kunstverein/Edition Cantz, 272Seiten, 48DM. Darin ein ausführliches Gespräch zwischen Kabakow und Groys über Installationen.

Ilya Kabakow/Boris Groys: Die Kunst des Fliehens. Edition Akzente/Hanser-Verlag, 134Seiten, 28DM.

Boris Groys: Zeitgenössische Kunst aus Moskau. Verlag Klinkhardt & Biermann, 255Seiten, 48DM.