Trauma und Zerstörung im Südirak

In den schiitischen Städten des Irak sind die Wunden des Golfkrieges noch lange nicht verheilt  ■ Von Henri Héron

Barfuß steht er im Schlamm, durch die abgerissenen Kleider ist schmutzige Haut zu sehen, und mit einer Plastikpistole schießt der kleine Junge in alle Himmelsrichtungen: „Bang! Bang! Lauft, Jungs, versteckt euch gut! Die Armee ist da! Bing! Bang! Buh!“ Laßt ihn uns „Basra“ nennen, den kleinen Kämpfer in der gleichnamigen Metropole des Südirak, der hier im verregneten Winter lacht und schreit. Denn er ist repräsentativ für diese traumatisierte Stadt, die sich von den Zerstörungen des Golfkrieges, der Aufstände und der Blockade noch immer nicht erholt hat. Je weiter der Besucher von Bagdad aus in den Süden vordringt, desto zahlreicher sind die halbnackten, barfüßigen Kinder, die bettelnden Frauen und Männer, deren Gesichter mehr über das Elend der letzten Monate aussagen als alle Worte.

Von Basra, 550Kilomter von Bagdad entfernt, bis Kerbala, nur 150Kilometer von der Hauptstadt, tobte im März letzten Jahres der Aufstand der Schiiten, niedergeschlagen von den Republikanischen Garden. Beide Städte wurden dabei schwer zerstört, wobei Basra zuvor auch massive alliierte Luftangriffe zu erleiden hatte. Von einem solchen Schicksal verschont blieb Nadschaf, heilige Stadt der Schiiten mit dem Grab von Ali, erster schiitischer Imam und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. „Die USA wollten weder das irakische Regime noch den Iran provozieren“, sagt ein Bewohner dieser Stadt. „Deshalb haben die Alliierten Nadschaf nicht so schwer bombardiert wie Basra. Außer ein paar Brücken und Fabriken wurde nichts zerstört.“

Die beiden heiligen Grabstätten in Kerbala — von Ali und von Al-Abass, Onkel des Propheten — wurden hingegen von den Kämpfen zwischen irakischer Armee und Aufständischen stark in Mitleidenschaft gezogen: Sie dienten als Schutz für die Rebellen beim Widerstand gegen Saddam Husseins Militär. Heute sind die Grabstätten zu Werkstätten geworden. 30 Millionen Dinar, 100Kilogramm Gold und 200Kilogramm Silber, alles persönlich von Saddam Hussein gespendet, sollen die Spuren des Krieges beseitigen. „Der Präsident, Gott schütze ihn“, erklärt Provinzgouverneur Abdul Khaleq Said, „sagte uns, wir hätten freie Hand und könnten so viel Geld wie nötig bekommen, um diese heiligen Orte so schnell wie möglich zu reparieren.“

Abdul Khaleq verdankt seinen Posten dem Sieg des Regimes über die Aufständischen: Früher war er Berater im Bagdader Präsidentenpalast. Er symbolisiert die Wichtigkeit, die Saddam Hussein der Wiedergewinnung der schiitischen Sympathien beimißt. Eigentlich Sunnit, hatte sich Saddam Hussein bereits am Anfang der 80er Jahre, wenige Monate nach dem Beginn des Krieges gegen den Iran, zum Schiiten erklärt und Historiker und Wissenschaftler mit der Erstellung eines neuen Stammbaums beauftragt, aus dem seine direkte Abstammung von Imam Ali hervorgehen sollte.

Ernstgenommen werden solche Bemühungen, wie auch die heutige Großzügigkeit, im zerstörten Kerbala kaum. Während die Grabstätten mit massivem Ausmaß repariert werden, sind Hotels, Restaurants und Häuser in der unmittelbaren Umgebung noch immer Kriegsruinen. Hunderte von Gebäuden wurden bereits abgerissen. „Wir wollen die beiden Stätten verschönern“, erklärt der Gouverneur die Untätigkeit, „und einen großen Platz einrichten.“ Die Besitzer der abgerissenen Gebäude hätten „günstige Entschädigungsgelder“ erhalten. Die Frage der Entschädigungen ist immerhin wichtig genug, daß dafür ein eigenes Komitee gebildet worden ist. Es regelt Entschädigungen für Abriß- und Kriegsschäden. Im Komitee sitzen einige Experten, ein Richter — und der Gouverneur selbst. Wer wird entschädigt? „Alle Staatsbeamte und Parteifunktionäre“, sagt der Gouverneur, und auch „viele andere Leute“.

Ein Nutznießer dieses Komitees sitzt 20Kilometer außerhalb von Kerbala mit seiner Familie in einer Notunterkunft: Hassan, ein wasserpfeifenrauchender Beamter, dessen Haus in Kerbala — so sagt er — von Rebellen abgebrannt wurde. Viel hat ihm die Entschädigung nicht genutzt: „Das Geld reichte gerade, um neue Fenstergläser zu kaufen“, erzählt er. „Wir müssen Baumaterialien vom freien Markt kaufen; ihre Preise haben sich verdreifacht oder vervierfacht.“ Gouverneur Abdul Khaleq bestätigt ebenfalls: „Wir haben große Mängel an Baumaterialen und Geld.“ Zwei Jahre, so schätzt er optimistisch, wird der Wiederaufbau noch dauern.

„Wir in Basra sind glücklicher“, sagt ein Bewohner der südlichen Metropole. „Mindestens konnten hier viele Leute ein neues Geschäft mit den Kriegsfolgen machen. Sie sammeln die verschiedenen Waffensorten, die die irakischen Soldaten in der Wüste zwischen dem Irak und Kuwait gelassen haben: Kalaschnikoffs, Minen, Raketen, Bomben. Viele Männer gehen mit ihren ganzen Familien, mit Frauen und Kindern in die Wüste und suchen tagelang nach Waffen. Auch wenn manche auf Minen treten und sterben — das Geschäft geht weiter. Das Regime bezahlt für die Waffen gutes Geld.“ Die dramatische Lebensmittelsituation Basras erzwingt dramatische Überlebensmethoden. Diebstahl, Raubmord und andere Kriminalitätsformen blühen. „In vielen Vierteln kann man nach 20Uhr nicht mehr sicher auf die Straße gehen. Sogar die Tür aufzumachen ist gefährlich“, lamentiert ein Bewohner. „Alle Leute schimpfen auf das Regime, aber keiner weiß einen Ausweg. Alle sind resigniert. Niemand denkt mehr an einen Aufstand.“

Ein Hinweis auf die Schiiten bringt ihn in Rage. „Die Schiiten?“ schreit er, „wissen Sie, was die Leute über Al-Hakim (schiitischer Oppositioneller, d.Red) sagen? Sie nennen ihn Baker al-Hakim. Er ist ein amerikanisch- israelischer Spion, seine Leibwächter kommen vom Mossad. Außerdem hat der Geheimdienst die schiitischen Gruppen in den Stadtteilen liquidiert.“

Kleinere Gefechte, erzählt man in Basra, gibt es aber noch: Jede Woche soll es ein oder zwei Angriffe auf Armeepositionen außerhalb der Stadt geben, ausgeführt von bewaffneten Gruppen, die sich aus dem Iran über die Grenze schmuggeln. Nachzuprüfen ist dies nicht. Doch der schiitische Widerstand gegen Saddam Hussein scheint auch heute, fast ein Jahr nach der Niederschlagung des großen Aufstandes, nicht ganz erloschen.