Frankenstein grüßt Europaparlament

Entscheidung über Gen-Patentierbarkeit verschoben/ Druck der Bauern/ Enteignung der dritten Welt  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„Europa spielt Gott: Kein Patent auf Leben!“ Unübersehbar begrüßte diese Greenpeace-Aufforderung neben einem riesigen Frankensteinkopf, den zwölf Sterne umkreisten, die Europaabgeordneten, als sie am Montag an ihren Straßburger Arbeitsplatz strömten. Wichtigster Punkt auf der Tagesordnung des Europaparlaments (EP): ein Gesetzentwurf der EG-Kommission zur Patentierbarkeit gentechnischer Erfindungen. Es war jedoch weniger den Protestaktionen der angereisten Genkritiker als dem plötzlichen Drängen des Europäischen Bauernverbandes COPA geschuldet, daß die Abgeordneten den Entwurf samt der Änderungsanträge ihres Kollegen Willi Rothley überraschend in die Ausschüsse zum Überarbeiten zurückorderten. Grund: Der sozialdemokratische Euro-Abgeordnete hatte letzte Woche das sogenannte Landwirteprivileg aus seinem Antrag gestrichen. Dies bedeute für die Bauern und Züchter, so der grüne Europarlamentarier Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, daß sie endgültig zu Handlangern der Gentech-Industrie würden. Den Landwirten wäre in Zukunft nicht mehr gestattet, „das selbstgeerntete Saatgut im eigenen Betrieb erneut zu nutzen oder ihre Nutztiere weiterzuzüchten, ohne an die Patentinhaber bestimmter Eigenschaften, die in Pflanzen oder Tiere gentechnisch eingebaut wurden, Nutzungsgebühren zu bezahlen“. Mit der Patentierung gentechnischer Erfindungen schaffe sich die Industrie die ihr genehmen Eigentumsverhältnisse. Nicht mehr eine bestimmte Anzahl ganzer Lebewesen— Hunde, Schweine, Kühe — besäße ein Landwirt in Zukunft, sondern eine Summe von Eigenschaften wie Vermehrungsfähigkeit, Resistenz oder Wachstum. Zwar entwickeln Züchter schon heute immer mehr leistungsstarke hybride Pflanzensorten, die sich nur für einen einmaligen Anbau eignen und die Bauern deshalb zum Nachkauf von Saatgut zwingen. Außerdem beanspruchen die Züchter bisher nicht die Urheberschaft auf eine ganze Planzensorte oder Tierart, ihre Nachkommenschaft und den daraus hergestellten Lebensmitteln und Produkten. Genau dies soll jedoch, so die Gen-Kritiker, mit dem neuen Patentgesetz möglich werden. Eine totale Abhängigkeit der Bauern und Züchter von den Gentech-Firmen wäre die Folge — mit dramatischen Konsequenzen für die dritte Welt. Das genetische Material, mit dem die Bio-Industrien Europas, der USA und Japan arbeiten, stammt größtenteils aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Eine Patentierung käme daher einer globalen Enteignung der Bauern und Züchter der dritten Welt gleich. Der Entwicklungsexperte Pat Mooney spricht von einem genetischen Raubrittertum gigantischen Ausmaßes. Ein Beispiel: Letztes Jahr kaufte der US-Konzern Merck für die lächerliche Summe von einer Million Dollar von der Regierung Costa Ricas das exklusive Nutzungsrecht der genetischen Vielfalt der Urwälder des Landes. Den Zeitgewinn, der durch die Zurückweisung des Gesetzentwurfs entstanden ist, wollen die Genkritiker nutzen, um ihren Antrag auf einen einjährigen Sonderausschuß erneut zu stellen. Damit soll den Parlamentariern und der europäischen Öffentlichkeit Gelegenheit gegeben werden, überhaupt erst einmal zu diskutieren, was auf sie zukommt. Schließlich sind nicht nur Pflanzen und Tiere betroffen. Auch Menschen oder Teile von Menschen sollen patentierbar werden.