Die Irrgärtnerin

■ Das Neue Museum Weserburg kann sich die Hilfe nicht leisten, die seine Besucher brauchen / Ein Lokaltermin mit der einzigen Führungskraft

Man möchte argwöhnen, daß von je zwölf Kunstflaneuren nur zehn wieder rauskommen: Das Neue Museum Weserburg ist ein vierstöckiger Speicher für Irrgänge, minimale Schocks und unvermutete Werke. Wer nur die nächste Verwandtschaft eines Gemäldes aufsuchen will, muß aus der Sammlung Gerstner hinauf in die Sammlung Onnasch über die Sammlung Grothe linkerhand und hat sich womöglich schon verlaufen und verloren.

Die Sammler haben ja hier lauter kleine Duodezfürstentümer, und über die Grenzen laufen abenteuerliche Pfade: Jedes Werk hat entlegene Korrespondenten, und von manchem finden sich weit versprengt noch ästhetische Abkömmlinge. Durch diesen köstlichen Irrgarten führt einen, falls man Glück hat wie ich, die Irrgärtnerin: Christine Breyhan, noch immer einzige Museumspädagogin des Hauses.

“Mit Schülern geh ich gerne erstmal zu den Roxys und sag dann gar nichts.“ Da stehn wir also vor Kienholzens Plüsch- und Muffpuff, dieser steinerweichenden Installation aus Frauenpuppen, Knöchelchen und Maschinenteilen. Und alle schaun an uns vorbei, Fifi und Cockeyed Jenny und die andern; ein moderbunter Trubel. Was haben da nicht alles die Kids gleich zu bequatschen; nur um die Ecke Madam glotzt uns geruhsam an aus ihrem Eberschädel: „Da sind die wieder alle ruhig“, sagt Christine Breyhan.

Christine Breyhan, Fachfrau für die kürzesten Wege zwischen den Aha'sFoto: Falk Heller

Dann führt sie kurzerhand ihre Scharen in eine andere Welt: Nebenan hocken George Segals Figuren, und stummer noch als der Gips, aus dem sie sind, und wie gehüllt in geradezu geistiges Weiß. Da gehn schon die Schülerfragen kreuz und quer, und vollends ein paar Schritte weiter, wo Duane Hansons Housewife stier im Sessel hängt, kommen Reklamationen hinzu: „Soll'n das? Kuuunst?“ Dann sehn die ersten diese Flecken auf der Haut. „Stiche? Oder von Schlägen?“ Und zetteln Erörterungen an und wilde Spekulationen, und bemerken vielleicht, daß die Skulptur so

hierhin kleine Frau

in Kunstumgebung

realissime gar nicht lungert, sondern menschenähnlich fremdelt wie ein Leichnam.

„Da sind wir wunderbar schnell bei Fragen der Technik“, sagt Christine Breyhan, „da wolln die wissen, wie das geht, und ich erzähle, wie Hanson seine Polyestergestalten oftmals übersprüht mit dünnen Ölschichten, bis diese wächserne Transparenz entsteht; und dann wage ich mal, hinüberzugehen zu diesen minimalistischen Geschichten.“

Sie ist sozusagen eine Spezialistin für die kürzesten Wege zwischen den Aha's. Schon hebt uns der

Fahrstuhl in die Etage, „wo man schön drei Varianten sieht, wie man aus dem Motiv aussteigen kann“: Baselitz, der es umdreht; Richter, bei dem sich's verwischt und verflüchtigt; und Penck, der es in lauter Graffitis verhext.

Unter den 350 Werken im Hause könnte man derart endlos anbändeln: Manchmal träumt die Pädagogin noch davon, eigens ein Buch über Verbindungswege und Kürzestrundgänge zu machen und darin, nicht nur spaßeshalber, einmal lauter Kunst zu Dreiergruppen zu kuppeln: vielleicht ein kombinatorisches Extravergnügen für Leute, die sich sonst vorm Verirren fürchten.

Aber selbst die Produktion einzelner Führungsblätter kommt nur schleppend voran; von ande

Mit Schülern gehe ich gern erstmal zu den „Roxys“ und sage gar nichts

ren Vorhaben zu schweigen: Videos, vor denen man sich mal erholen kann; Repros, die an Ort und Stelle verwandte, aber entfernte Werke zitieren, Rundgangsvorschläge, ein Handbuch, all die Materialien, welche grad in solchem Haus überall unauffällig zur Stelle sein müßten.

Unterdessen verschleißt sich Christine Breyhan, die mal davon ausgegangen war, „daß wir eine Abteilung werden“, ohne Aussicht auf zusätzliche Stellen eben alleine: mit Führungen, mit Seminaren für Lehrer, mit einführenden Texten, mit Verwaltungskram und Sponsorenakquise. Dutzende von Briefen gehen an Vereine, an Firmen, Schulen usw. und bieten Spezialführungen; alles, „damit mal Leute kommen, die nicht von selber ins Museum gehen“. Und manchmal, in trüben Augenblicken, ist ihr, als ob sie sich darum alleine mühen müßte.

Manfred Dworschak