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Tradition hat keinen Platz

■ Ein Arbeiterkinder-Gymnasium ist die Neuköllner Abbé-Schule nicht, aber eine bunte Mischung aus vielen Ausländerkindern und wenigen Sprößlingen von Akademikern/ Nur die Hälfte des Jahrgangs erreicht das Abitur

Neukölln. Strengblickende Herren mit Spitzbart sucht man vergeblich auf den Fluren des Ernst- Abbé-Gymnasiums in Neukölln. Hier gibt es keine Ahnenreihe in Öl oder Bronze, die der Besucherin »Tradition« entgegenruft. Statt dessen spiegeln die Wände die Fragen der Gegenwart wider, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen im Kunstunterricht auseinandergesetzt haben. »Gewalt« ist eines der Themen, die SchülerInnen wie LehrerInnen beschäftigen. Im Rahmen eines Projekttages fand es besondere Berücksichtigung. Auf dem Weg zum Schulhof passieren die SchülerInnen täglich ein Wandbild, welches eine Gruppe von Jugendlichen zeigt, die gerade im Begriff sind, mit Messern aufeinander loszugehen. Darüber haben die SchülerInnen unter anderem »füreinander dasein« und »Toleranz« geschrieben.

Toleranz braucht es auch an dieser Schule mit ihrer heterogenen Schülerschaft: Neben vielen Ausländerkindern (28 Prozent) sorgen mittlerweile eine Reihe von Ostberliner Kindern für ebenso bunte wie konfliktträchtige Vielfalt. Gerade diese beiden Schulen haben sich — so der Schulleiter Dieter Pfannenstiel — anfangs ein wenig schwer miteinander getan, sich mit der Zeit aber aneinander gewöhnt. Auch sozial ist die Schülerschaft gemischt; von einem Arbeiterkinder-Gymnasium kann, so Pfannenstiel, keine Rede sein. Das Hauptklientel der Schule rekrutiert sich eher aus dem Kleinbürgertum. Akademikerkinder sind hier selten — nicht umsonst ist Neukölln der Westberliner Bezirk mit dem niedrigsten durchschnittlichen Bildungsniveau. Dieter Pfannenstiel betrachtet dies nicht als Makel. Seiner Meinung nach ist nicht die Öffnung der Gymnasien für eine größere Bevölkerungsgruppe verantwortlich für die Veränderungen, denen dieser Schultyp zur Zeit unterliegt, sondern die allgemeine Veränderung der Einstellung zur Schule.

Pfannenstiel hat die Erfahrung gemacht, daß es nicht so wichtig ist, ob die Eltern den SchülerInnen bei den Hausaufgaben helfen können oder nicht. Wichtig sei jedoch, daß von den Eltern die Neugierde des Kindes auf das, was in der Welt passiert, geweckt und genährt wird. Seine Versuche, die Eltern zu Besuchen von Ausstellungen und anderen Kulturveranstaltungen zu motivieren, stießen jedoch meist auf taube Ohren. »Wir sind eine Knopfdruck-Fertigprodukt-Gesellschaft«, resümiert er, »das gilt nicht nur für Neukölln.« Natürlich wird Pfannenstiel öfter als die Schulleiter besserer Bezirke auch mit solchen Fällen konfrontiert, in denen die Eltern die schulischen Ambitionen ihres Kindes überhaupt nicht unterstützen. »Diese Kinder müssen dann schon sehr starke Charaktere sein, um trotzdem zum Ziel zu gelangen«, stellt er fest.

In der Ernst-Abbé-Schule erreichen von 120 SchülerInnen einer Jahrgangsstufe im Schnitt 50 bis 60 später das Abitur. Ein Teil der Abgänge verläßt das Gymnasium freiwillig nach der zehnten Klasse, die anderen scheitern an den Anforderungen. Dabei trifft es stets besonders viele von denen, die trotz anderslautender Grundschulempfehlungen hier eingeschult wurden. Eine »Problemschule« ist das Ernst-Abbé-Gymnasium trotz aller Schwierigkeiten nicht. Laut Pfannenstiel sind weder Drogenmißbrauch, noch Schlägereien an der Tagesordnung. Manchmal sind die SchülerInnen offenbar fast ein bißchen zu brav. »Die sind so passiv«, klagt Pfannenstiel, »die versuchen noch nicht einmal, die Lehrer zu provozieren.« Sonja Schock

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