Was steht hier Kopf?

Offener Brief an Walter Jens  ■ Von Ralph Giordano

„Schlimmer, als einen politischen

Irrtum zu begehen, ist es,

keine Konsequenzen aus ihm

zu ziehen.“

Lieber Walter,

alter Freund,

was ist da unter Deinem maßgeblichen Präsidenteneinfluß geschehen mit der Vereinigung der West- und Ost-Akademie der Künste? Ich beginne, Dich und die Welt nicht mehr zu begreifen. Was spaltest Du plötzlich Haltungen, die Dich berühmt gemacht haben — nämlich Aufarbeitung von schuldhafter Vergangenheit im Sinne ungeteilter Humanitas und ungeteilten Kampfes gegen Menschenrechtsverletzungen, egal, wo immer sie begangen worden sind, und diese Haltung ohne Ansehen der Person und des Systems? Gegen Verdrängung, gegen die „Unfähigkeit zu trauern“!

Aber jetzt? Stimmt es, was der aus Protest gegen die Akademievereinigung ausgetretene Günter Kunert in seinem offenen Brief an Dich schrieb: Du hättest gesagt, solche Austritte aus der Akademie der Künste seien der „kleinere Schaden“? Sag mir, Walter, daß das nicht stimmt! Kunert raus, rein aber all die DDR-Staats- und Parteidekorierten unter den 45 im En-bloc-Verfahren aufgenommenen ehemaligen Mitgliedern der Ost-Akademie? Rein die Nationalpreisträger aller Klassen, die Inhaber Vaterländischer Verdienstorden in Gold, die Besitzer von Karl-Marx- und „Banner der Arbeit“-Plaketten — die Balden, Jastram, Mohr, May, Rücker? Kunert raus, dafür nun aber Mitglied der gesamtdeutschen Akademie der Künste der unsägliche Manfred Wekwerth, medaillenüberschütteter Kulturfunktionär und Mitglied des ZK der SED? Was, Walter, steht hier Kopf? Mal ganz abgesehen davon, daß jede neue Mitgliedschaft in dieser konfliktlos vereinten Akademie der Künste wahrlich höchst problematisch wird — stimmt, was ich vernommen habe, nämlich daß die Aufnahme Wolf Biermanns „diskutiert“ werden müsse? Welche Claqueure schlagen Dir jetzt auf die Schulter, und wer, wie wir Hamburger sagen, „högt sich da einen“ — klammheimlich? Wen hast Du da plötzlich als neue Bundesgenossen zur Seite — und wen bist Du in Gefahr, als alte zu verlieren? Wen hast Du schon verloren?

In Deiner Replik auf den offenen Brief von Günter Kunert und die Gründe seines Austritts aus der Akademie der Künste hast Du die „öffentliche Auseinandersetzung“ gefordert — mit dieser Publikation befolge ich Deinen Aufruf.

Fürchterlich — schon im Vorfeld der Akademievereinigung waren wieder jene unheimlichen Töne und absichtsvollen Stimmen zu hören, denen zur eigenen Exkulpierung nichts anderes einfällt, als lautstark Nationalsozialismus und Realexistierenden Sozialismus als Meßmodelle aneinanderhalten! Natürlich, um zu dem Schluß zu kommen, daß dieser „nicht so schlimm“ gewesen sei wie jener (ich kenne die Methode mit Umkehrschluß unter braunen Vorzeichen seit mehr als 45 Jahren). Mir wird speiübel, weil hinter dieser entseelten Totenarithmetik nichts als die totale innere Beziehungslosigkeit zur Welt der Opfer sichtbar wird. Das Brandmal all dieser „Genossen“, von denen etliche nun am Tisch der vereinten Akademie der Künste sitzen, ist ihre währende Ent-Solidarisierung mit den Leichengebirgen des Planeten GULAG! Richtig, im Falle der ehemaligen DDR war kein neues Auschwitz zu beklagen, kein Vernichtungsapparat im Stile des NS-Reichssicherheitshauptamtes, wie auch die Führung der kleinen DDR nicht Welteroberungsplänen à la Hitler nachhing. Aber — wird ein so scheußliches System wie das des realexistierenden Sozialismus etwa weniger scheußlich dadurch, daß es ein noch scheußlicheres gab?

Ich bin ein Verfechter der These von der absoluten Singularität des Nationalsozialismus, aber nein und abermals nein zu jenem Aufrechnungsmißbrauch der Opfer beider Gewalt- und Mordsysteme!

Den greulichsten Ausspruch bei der Verdrängung von DDR-Vergangenheit hat sich übrigens ein Strafverteidiger geleistet, als Kommentar zum Umgang mit Stasi-Akten — Gerhard Strate: „Wenn die Opfer über die Täter richten, beginnt die Barbarei.“ Man muß sich diese Umkehrung der historischen Verhältnisse einmal auf der Zunge zergehen lassen... Günter Kunert schreibt mir dazu: „Falls Du es noch nicht gewußt hast — in Deutschland ist die Barbarei immer ein Unternehmen der Opfer, während die Täter die Zivilisation aufrechterhalten.“ Ja! Und Du, Walter, sprichst von einer „Tribunalisierung“ der ehemaligen DDR- Künstler, wenn es bei der Vereinigung der Ost- mit der West-Akademie der Künste zu Einzelwahlverfahren gekommen wäre. Genau das aber wäre das einzig Aufrichtige gewesen!

Beim Protest von Kunert, Fuchs, Schädlich, Loest, Klier, Noll — ich stehe hinter ihnen — sollen Haß, Rache, Unversöhnlichkeit, Richterpose im Spiele sein? Täter-Gezeter, Walter, wohlüberlegter Rollentausch, sattsam bekannte Stichworte des schlechten, aber nicht bekenntnisbereiten Gewissens! Zu dieser ganzen verlogenen Anklage aus der falschen Ecke kategorisch: Jedem, aber auch jedem die Hand, der sich über das Geständnis selbst zu befreien sucht von den Fesseln des Stasi-Staates, in die er verstrickt war — und mit diesem schmerzhafteren Weg als dem der Verdrängung den Opfern von gestern seine späte Reverenz erweist! Hat Schedlinsky das nicht probiert, unfertig noch und wahrscheinlich nicht bis ins letzte aufrichtig — aber hat dieser „Prenzlauer“ nicht einen Anfang gemacht? Und was ich bei der Lektüre gespürt habe? Erleichterung, Verständnis, ja Achtung und Sympathien für den, der da gesteht, der da sucht, der da tastet. Es war wie ein Appell an mich, auf den Mann zuzugehen, ihn auf dem neuen, ungewohnten Pfade zu begleiten, ihn neugierig auszufragen: Berichte weiter, informiere, mit welchem Druck, mit welchen Mitteln der Stasi-Staat Menschen traktiert und mürbe gemacht hat (es wird auch andere gegeben haben, frei- und böswillige, nicht zu vergessen). Zeige, wie es war, und trage dein Molekül bei, daß es sich nicht wiederholt: indem du kundig machst. Und schone dich nicht, denn je größer der Schmerz, desto tiefer die Erlösung. Das habe ich empfunden angesichts dieses Versuches, Einblick in eine äußere und innere Hölle zu geben, die all jenen erspart geblieben ist, die ohne jedes Verdienst das Glück hatten, jenseits des stalinistischen Einflußbereichs auf deutschem Boden geblieben zu sein.

Die En-bloc-Vereinigung der beiden Akademien führt zu noch einer weiteren Assoziation. Heute stehen die Stasi-Informanten, die IMs, vor dem Medien-Tribunal der Nation (wovon so mancher wohl Opfer und Täter in einem war). Klar, die Akten müssen auf den Tisch, das muß heraus, der Sumpf muß trockengelegt werden. Aber drohen hinter den Zuträgern, hinter dieser Riesenriege der Sekundärverantwortlichen, nicht die Primärtäter zu verschwinden, die Krake selber, die „Firma“, ihre „Führungsoffiziere“ und „Oibes“ (Offiziere im besonderen Einsatz), ganz zu schweigen von den eigentlichen Schreibtischtätern, den politischen Hierarchen, denen bisher niemand wirklich juristisch ans Leder gegangen ist? Und verschwinden bei dem Verfahren nicht auch die für das System viel effizienteren Galionsfiguren der SED-Kultur? Hat ein Aushängeschild des realexistierenden Sozialismus, Akademiemitglied, Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold (1980, nach dem Nationalpreis 1.Klasse 1975) und die Dichter-Ikone der DDR, hat Stephan Hermlin nicht weit mehr zu verantworten als die kleinen Zuträger? Ich meine denselben Hermlin, der die Chuzpe hatte, mir ins Gesicht zu erklären: „Natürlich ist die DDR doch das bessere Deutschland!“ Ich weiß nicht, Walter, ob Du es mitgehört hattest, obwohl Du am gleichen Tische saßest, damals, 1988 in Wiesbaden, vor der großen Podiumsdiskussion mit Lea Rosh um deutsche, also auch um DDR-Probleme. Ich habe es gehört und nicht vergessen: der Überwachungsstaat DDR also das „bessere Deutschland“... Es war derselbe Hermlin, der, nachdem er im gleichen Gespräch die häßlichsten Seitenhiebe gegen andere verjagte Schriftsteller ausgeteilt hatte, sich dann nicht coram publico an unseren Diskutantentisch setzen wollte, weil — ja, weil Jürgen Fuchs unter ihnen war... Doch mit Honecker auf Duzfuß stehen? Hermlin habe, so höre ich einen Einwand, auch „Gutes“ getan, habe Kritik geübt? Natürlich konnte er in seiner Position, siehe Biermann-Ausweisung, eine Lippe riskieren, konnte, wie es so schön heißt, auch „Schlimmeres verhüten“. Doch das nur unter der Voraussetzung, daß er einen Draht nach ganz oben hatte und zur „nichtfolterbaren Klasse“ gehörte (ganz im Gegensatz zu Jürgen Fuchs, siehe seine Gedächtnisprotokolle, die die Stasi in die Reihe der verbrecherischen Organisationen einweisen).

Aber Stephan Hermlin sei doch von den Nazis verfolgt worden? Gewiß — nur läßt sich das kompensieren gegen lebenslange Nibelungentreue zu einem anderen Gewaltsystem? Schließlich — Hermlin sei doch Jude? Ich auch! Und mit dieser Legitimation, mit dem Recht eines Überlebenden des Holocaust sage ich: Wer sich aus einem verfolgten Nazi-Gegner in einen Anhänger des stalinistischen Verfolgersystems verwandelte, der handelte besonders verwerflich. Kein KZ-, kein Zuchthaus-, kein Emigrationsbonus als Aufrechnungsmasse!

Endlich, Walter, sollst Du, laut 'Kölner Stadtanzeiger‘, gesagt haben: „Es gibt viele Wunden — auf beiden Seiten.“ Lese ich richtig? Was, um Himmmels willen, heißt denn das? Doch wohl nicht, daß diese „Wunden“ aneinander zu halten seien, also Erich Loests sieben Zuchthausjahre gegen die Wunden, die sich derzeit Hermann Kant leckt (den Du ja auch mit verbalem Wohlwollen bedacht hast)? Was soll diese Einebnung, diese Schicksalsparallelisierung, die das historische Verhältnis zwischen Tätern und Opfern auf den Kopf stellt? Warum tust Du das? Du stehst doch den Tätern nicht näher als den Opfern? Sind es Deine in Jahrzehnten gesponnenen persönlichen Beziehungen zu Schriftstellern „von drüben“, die Dich in die Nähe dieser Frage bringen? Hat Deine Mitgliedschaft zur Ost-Akademie der Künste seit 1984 individuelle Befangenheiten hergestellt, über deren versöhnlerischen Schatten Du nun nicht mehr springen kannst? Fazit: Ich kann nicht seit meiner Befreiung fast fünfzig Jahre lang gegen Verdrängung der NS-Vergangenheit gekämpft haben, um jetzt bei der Aufarbeitung des Stalinismus auf deutschem Boden eine andere Elle politischer Ethik anzulegen. Es ist die gleiche Elle, die der ehemalige Stalinist Giordano nach elf Jahren KPD-Mitgliedschaft von 1946 bis 1957 und nach Erkenntnis der Lüge schonungslos öffentlich an sich selbst legte: Verteidige dich nicht — gestehe! Das hat mehr als wehgetan, und lange noch. Aber ohne die Ursachen der Selbstversehrung, des persönlichen Verlustes an humaner Orientierung schmerzhaft zu ergründen, kann es keine Erklärung geben, sondern nichts als die moralische und intellektuelle Selbstverstümmelung. Es gibt Standorte, die kriegt man nicht geschenkt — die können nur erkämpft und erlitten werden. Denn schlimmer, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Nur durch sie kann eines wiedergewonnen werden — die Fähigkeit zu trauern.

Sie bei der Vereinigung der beiden Akademien der Künste nicht abgewartet zu haben, Walter, ist, was ich Dir vorwerfe.

Zum Schluß: Wenige Briefe sind mir so schwer gefallen wie dieser offene an Dich — wer unser beider Geschichte kennt, der weiß, warum. Ich habe es ja oft beschworen, zuletzt vor fünfhundert Studenten der Hamburger Universität: Du warst Deinem Ralle (wie ich damals genannt wurde) während der schweren Jahre auf dem Hamburger Johanneum von 1933 bis 1940 ein großer, ein unverwüstlicher, launenloser Freund, warst meine Stütze, mein schul- und alltäglicher Halt, mehr als Du geahnt hast. Daß ich nach der Befreiung in Deutschland geblieben bin, trotz allem, hängt zusammen mit dieser Grunderfahrung, hängt zusammen mit Dir, mit Deiner wunderbaren, nie versiegenden Beständigkeit gegenüber dem gefährdeten Klassenkameraden, dessen größtes Knabenproblem nicht zu allererst die staatlichen Rassengesetze waren, sondern nach bitteren Erfahrungen die Angst vor Freundschaftsverlust... Und wenn ich 150 Jahre alt werden würde, Walter, die Erinnerung an Deinen frühen Beistand ist für mich so jung geblieben, als hättest Du ihn gestern geleistet. Aber jetzt wankt etwas, vor dessen Sturz ich mich fürchte... Deshalb das Geständnis, das diesen Brief, obwohl in die Maschine getippt, mit sozusagen blutender Feder geschrieben hat.

Dein alter Ralle

11.2.92