KOMMENTAR
: Die journalistische Ethik des Rufmordes

■ Der „Fall Wallraff“ ist ein „Fall Mertes“

Günther Wallraff ist niemand geringeres als der prominenteste Journalist Deutschlands. Angefangen mit seinen 1966 erschienen Industriereportagen bis zu seinem Bestseller Ganz Unten hat er eine hierzulande verkümmerte journalistische Tradition zur einsamen Meisterschaft entwickelt, die des investigativen Journalismus. Er drang als Reporter mit einer falschen Identität in Firmen und Institutionen ein und stellte Öffentlichkeit über skandalöse Verhältnisse oder illegale Machenschaften her, die der Öffentlichkeit bewußt entzogen waren. Wallraff und sein Reporterteam stiegen in die Niederungen der westdeutschen Gesellschaft hinab und prägten mit ihren Sozialreportagen, die zur Pflichtlektüre in deutschen Schulen avancierten, das Bewußtsein von Millionen. In der Camouflage des Türken Ali schärfte er die Sensibilität für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Als geschicktester Under-cover-Journalist der Republik hat er sich große Verdienste erworben. Indem er die so gerne proklamierte, doch so kümmerlich wahrgenommene Kontrollfunktion der Presse wirkungsvoll erfüllte, schuf er sich naturgemäß mächtige Feinde, avancierte zum Lieblingsfeind der Mächtigen rechter Couleur. Sein spektakulärster Coup gelang ihm, als er sich in die Redaktion der 'Bild‘ einschleichen konnte und die Arbeitsweise der größten deutschen Zeitung en detail enthüllte.

Selbiges Blatt erschien gestern mit der Schlagzeile: „Stasi-Vorwürfe gegen Wallraff“. Gestützt auf dünnliche Informationen eines ehemaligen Stasi-Mannes, hatte das schmierigste deutsche Yellow paper 'Super‘ berichtet, daß Wallraff seit 1968 Kontakte mit dem MfS gepflegt und von den Tschekisten in der Normannenstraße tatkräftige Unterstützung erhalten habe. Während 'Super‘ und 'Bild‘ jedoch die Anschuldigungen — wohl nur aus prozeßtaktischen Gründen — mit einem Fragezeichen garnierten, inszenierten die öffentlich- rechtlichen Tagesthemen vorab eine Exekution, die den minimalsten Anforderungen an journalistischen Anstand Hohn sprach. Bei dem Kommentar des Wallraff-Intimfeindes Heinz-Klaus Mertes handelt es sich um schamlose Hetze. Solchen unsäglichen Vorverurteilungen läßt sich nur entgegensetzen: In diesen Tagen der Stasi-Enttarnungen, der Rache, des gezielten Streuens von Gerüchten und Verdächtigungen, des versuchten Rufmordes ebenso wie der stichhaltigen Beschuldigung muß mehr denn je der Grundsatz in dubio pro reo gelten. Auch wenn Sascha Andersons Kollaboration mit dem MfS intensiver war, als der Beschuldigte zunächst glauben machen wollte — Wolf Biermann schließlich richtig lag —, hat niemand das Recht, einen anderen als Stasi-Zu- oder -Mitarbeiter öffentlich zu exponieren, wenn er diesen rufmordenden Vorwurf nicht belegen kann. So lange keine unzweideutigen Beweise über Umfang und Art der Kontakte zwischen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit und Günther Wallraff auf dem Tisch liegen, kann Wallraff nicht als vom MfS gesteuert gelten.

Die Anwürfe gegen Wallraff weisen eine Parallele zur Kampagne gegen Bernt Engelmann auf, dessen Ausschluß aus dem Schriftstellerverband die CDU und CSU inzwischen gefordert haben. Es geht um die Frage, ob westdeutsche Journalisten Informationen, die aus der DDR oder direkt vom Ministerium für Staatssicherheit kamen, verwenden durften. Oder weitgehender: Erlaubt es die journalistische Ethik, Materialien von Geheimdiensten zu veröffentlichen? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Ja.

Ohne Material aus der DDR und anderen osteuropäischen Ländern wäre mancher NS-Charge bis zur Rente in seinem bundesrepublikanischen Amt verblieben. Ohne Erkenntnisse der CIA wäre die libysche Giftgasküche made in Germany bis heute nicht aufgeflogen. Journalisten haben also gelegentlich sogar die moralische Verpflichtung, Geheimdienstmaterial zu publizieren. Uns Journalisten hat dabei vor allem anderen zu interessieren, ob eine Information oder ein Dokument authentisch ist, und erst in zweiter Linie, woher es kommt. Alle westdeutschen Politiker, die Material vom MfS zugespielt bekamen, sei es der Bundesvorstand der SPD und DKP, alle Journalisten, sei es beim 'Stern‘ oder seien es Einzelkämpfer wie Engelmann oder Wallraff, müssen sich jetzt allerdings auch die Frage gefallen lassen, ob sie die Echtheit solchen Materials ausreichend geprüft haben, ob sie überhaupt dazu in der Lage waren, dies zu prüfen. Denn Politiker und Journalisten dürfen sich weder wissentlich noch unwissentlich zu Werkzeugen von Geheimdiensten und deren notorischen Desinformationskampagnen machen lassen. Honorigen Blättern wie der 'Süddeutschen Zeitung‘ ist dies mit von der Stasi gefälschten Protokollen von Telefongesprächen passiert.

Das alles ist im Einzelfall mit Bedacht und Genauigkeit zu prüfen. Sollten die bisher dubiosen Vorwürfe gegen Günther Wallraff, Bernt Engelmann oder andere linke Symbolfiguren sich erhärten, so müssen all jene, die sie geschätzt oder unterstützt haben, sich der Frage stellen, ob das Mittel einer Kooperation mit der Stasi den Zweck der Aufklärung und Enthüllung rechtfertigen kann. Für eine solche Diskussion über politische Moral und journalistische Ethik am Beispiel Günther Wallraff ist es zu früh. Im Angesichte dessen, was wir heute wissen, ist nicht Günther Wallraff zu verurteilen, sondern der ARD-Kommentator Mertes, der mit seinen niederträchtigen Attacken den Berufsstand der Journalisten in Verruf bringt. Derzeit haben wir es weniger mit einem „Fall Wallraff“ als mit einem „Fall Mertes“ zu tun. Michael Sontheimer