Guatemala sucht seine Geschichte

Um dem 500-Jahre-Rummel zu widerstehen, berufen sich Guatemalas Indios auf ihre versunkene Maya-Vergangenheit  ■ VON RALF LEONHARD

In kaum einem Land Lateinamerikas ist der Anteil der Indios an der Gesamtbevölkerung höher als in Guatemala. Die 22 Völker und Ethnien, die alle von den Mayas abstammen, verstanden es, 500 Jahren Kolonisierung und katholischer Missionierung zu trotzen und sich ihre Sprachen, ihre Religion und ihre Traditionen zu erhalten. Anders als in den meisten anderen Staaten Iberoamerikas haben sich die Indios, oder „Indigenas“ wie sie sich selber nennen, nur wenig mit den Nachkommen der Eroberer vermischt und deren Wertesystem angepaßt. Noch heute lebt, denkt und kleidet sich jeder zweite Guatemalteke indianisch.

Zwar wurden die diskriminierenden Gesetze, die Indios zu arbeitspflichtigen BürgerInnen zweiter Klasse stempelten, während des kurzen demokratischen Frühlings 1944-1954 aufgehoben, doch im Denken der weißen Oberschicht und der meisten Ladinos (oder Mestizen) lebt die Apartheid weiter. Die Bessergestellten kennen Indigenas nur in Gestalt ihrer Hausmädchen, und „Indio“ ist heute noch ein schlimmeres Schimpfwort als Idiot.

Die Ausgrenzung der einen Bevölkerungshälfte und der geringe Kontakt zwischen den beiden Welten Guatemalas führen dazu, daß die europäischstämmige Oberschicht mit der beständigen Paranoia lebt, daß „die Indios von den Bergen kommen und uns alle umbringen“. Deswegen regte sich in Guatemala selbst [bei den europäischstämmigen EinwohnerInnen(?) d.sin] wenig Empörung, als die Armee im vergangenen Jahrzehnt einen drohenden Aufstand im Hochland durch Massaker an Zehntausenden indianischen Bauern niederschlug.

In den Indiogemeinden liegen Analphabetismus und Kindersterblichkeit um ein Vielfaches höher als bei den Ladinos. Die wenigsten Frauen können schreiben und beherrschen die Amtssprache Spanisch. Will ein Indigena studieren, muß er sich akkulturieren, Spanisch lernen, seine indianische Kleidung ablegen und am besten seine Herkunft verleugnen.

Kollektives Selbstbewußtsein

Das kollektive Selbstbewußtsein der indianischen Völker begann erst in den letzten Jahren zu erwachen. Die Forderung nach der Gründung einer Maya-Universität wurde erstmals 1984 auf einem Linguistenkongreß in Quetzaltenango formuliert. Vor kurzem entstand eine landesweit organisierte Vereinigung, Mayawil Q'ij, die ausschließlich aus indianischen Gruppen besteht und deren Interessen vertritt. Aber erst im Zuge der Kampagne gegen die Fünfhundertjahrfeier gelingt es den guatemaltekischen Indigenas, für ihre Sache Öffentlichkeit zu gewinnen, und das Interesse an der heutigen Kultur der Mayas dringt erst zaghaft über einen winzigen Insiderkreis hinaus. Der immer häufiger gebrauchte Markenname „Maya“, der den Terminus „Indigena“ in Guatemala ersetzt, soll die Erinnerung an die Hochkultur der stolzen Vorfahren wachrufen.

Als der Konquistador Pedro de Alvarado im Jahre 1524 die Völker auf dem Territorium des heutigen Guatemala unterwarf, waren die Mayas militärisch längst im Niedergang. Auch die Hochblüte der Architektur, deren imposante Reste wir aus den Tempelstädten in Südmexiko (Yucatan, Chiapas, Quintana Roo) und Guatemala kennen, lag mehr als ein halbes Jahrtausend zurück. Doch die Wissenschaften waren damals weiter entwickelt als in Europa.

Der Kalender der Mayas ist, wie man schon lange weiß, genauer als der gregorianische, der erst fast hundert Jahre nach seiner Entdeckung von Papst Gregor XIII (1572-1585) eingeführt wurde. Wie perfekt der Maya-Kalender ist, das konnte erst die US-Weltraumbehörde NASA vor wenigen Jahren berechnen: In 5.000 Jahren irrt er um einen einzigen Tag. Das Volk der K'ekchies orientierte sich an einem Heptalog, einem Gesetz von sieben Geboten, das noch überliefert ist. Es gebietet Gottesfürchtigkeit und richtet sich nicht gegen die Symptome des Übels, sondern gegen dessen Ursachen. So verbietet es den „Haß, der zu Rache und Verbrechen verleitet“, bestraft Lüge, Raub und Hochmut und verpönt Neid, Geiz und Verächtlichkeit. In San Juan Chamelco, der alten Hauptstadt der K'ekchies, gibt es kein Gefängnis und keinen öffentlichen Ankläger.

Agustin Estrada, ein Maya-Forscher, der jahrelang in kirchlichen Archiven gewühlt und lange Zeit in verschiedenen indianischen Gemeinden gelebt hat, versucht auch die verlorenen indianischen Werte aus der Versenkung zu holen und deren Wiederbelebung zu fördern. Nach einer Geschichte des K'ekchi- Volkes und einem Band über die indianische Esoterik arbeitet er jetzt an einem Werk über die indianische Naturmedizin. Dabei hat er erstaunliche Erkenntnisse gewonnen. So kann eine Amöbenbehandlung, die unerschwingliche 100 Dollar kostet, durch die regelmäßige Einnahme des Suds von Jacaranda-Blättern ersetzt werden. Mit dem Laub eines einzigen in Guatemala weitverbreiteten Jacaranda-Baums könnte ein ganzes Dorf von Darmparasiten befreit werden.

Die traditionellen Heilmethoden werden in vielen Indigena-Gemeinden noch gepflegt und von den Schamanen tradiert. Doch die alten Ackerbaumethoden sind weitgehend verlorengegangen. Nachdem die Nachfahren der Eroberer und neue Einwanderer die fruchtbare Pazifikebene für den großflächigen Anbau von Exportprodukten beanspruchten, wurden die indianischen Bauern immer mehr in das karge Hochland zurückgedrängt, wo sie auf viel zu kleinen Parzellen keine Rotationswirtschaft mehr betreiben können. Die Abhängigkeit von importierten Chemikalien und Hybridsaatgut, in die viele gerieten, macht die Rückkehr zur angepaßten Feldwirtschaft schwierig. Der Mangel an verfügbarem Ackerland verhindert die kommunale Bewirtschaftung. „Die Natur, in der die Kosmovision der Mayas entstanden ist, gibt es nicht mehr“, resümiert Clara Arenas, die Chefin des Sozialforschungsinstitutes AVANCSO.

Auch die klare demographische Trennung zwischen Ladinos in der Stadt und an der Pazifikküste und den Indios im Hochland ist heute nicht mehr gegeben. Durch die jahrelange Repression und die wirtschaftliche Verelendung sind Tausende Indigenas in die Hauptstadt gezogen und lassen dort das Lumpenproletariat, den Sektor der fliegenden Händler und Bettler anschwellen.

In den sechziger und siebziger Jahren schafften die ersten Mayas den Sprung auf die Universität: es entstand eine kleine Generation indianischer Intellektueller, die ihre ethnische Herkunft nicht verleugneten. Doch es blieben Einzelfälle. Erst durch die Gründung der Akademie der Mayasprachen wurde die systematische akademische Aufarbeitung der indianischen Kultur durch die Betroffenen selbst möglich. Die Arbeit steht noch ganz am Anfang, wie Marcial Maxia, ein Vorstandsmitglied der Akademie, einräumt. Denn von der ersten Forderung nach der Gründung der Akademie bis zu ihrer tatsächlichen Gründung im November 1990 mußten mehr als sechs Jahre vergehen. Mehrmals wurde das Projekt im Parlament verschleppt, und nur die Drohung der Indigena-Führer, den Hauptstadtverkehr tagelang mit 100.000 Indios aus dem Hochland zu blockieren, konnte letzten Endes die Approbation und staatliche Finanzierung der Akademie beschleunigen.

„Wir sind weder gegen noch für die herrschende Regierungsform und das Wirtschaftssystem“, stellt Maxia klar. Durch die von den Indio- Gemeinden hochgehaltenen Prinzipien des Kommunitarismus und der Solidarität würden sie allgemein als Kommunisten abgestempelt, doch die meisten wollen nichts anderes als gesellschaftliche Freiräume, das Recht, in Ruhe und auf ihre Art arbeiten zu können.

Langer Marsch durch die weiße Gesellschaft

Die Forderung nach unabhängigen Maya-Staaten, die eine Zeitlang von radikalen indianischen Intellektuellen vertreten wurde, findet heute kaum noch Anhänger. Immer mehr Indigenas setzen vielmehr auf den langen Marsch durch die Institutionen. „Nur wenn wir die Gesellschaft der Weißen unterwandern und wirklich kennen, können wir die Politik entscheidend mitbestimmen“, glaubt ein Student in der Maya-Metropole Quetzaltenango.

Der bewaffnete Kampf als Weg zur Macht ist längst in Mißkredit geraten. Waren vor zehn Jahren noch Hunderttausende Indios bereit, die Schreckensherrschaft der Militärs mit Waffengewalt zu beenden, so sehen heute kaum noch Indigenas die Guerillafront URNG als ihre Avantgarde. Die Repression hat vor allem die indianische Zivilbevölkerung dezimiert und auch in den revolutionären Organisationen gaben stets die Ladinos, meist doktrinäre Marxisten, den Ton an. Doch die Zeit der Repression hat die Maya-Völker geeint. Jahrhundertealte Rivalitäten zwischen den Ethnien sind in den letzten fünfzehn Jahren überwunden worden.

So haben die Quiche-Indianer von Chichicastenango den Brauch aufgegeben, die Judasfigur bei den Osterprozessionen in Kachiquel-Gewänder zu kleiden. In den Flüchtlingsdörfern in Mexiko, in den Internierungslagern im Lande selbst und in den Volksbewegungen haben die einst verfeindeten Völker gelernt, miteinander zu leben und zu arbeiten.

Auch die Religion spielt bei der Einigung der Maya-Völker eine herausragende Rolle. Durch Jahrhunderte katholischer Zwangsmissionierung mußte sich die Verehrung der traditionellen Götter hinter christlichen Zeremonien verstecken. Den Maya-Göttern wurde in synkretistischen Riten in der Gestalt katholischer Heiliger geopfert. War es vor wenigen Jahrzehnten noch die „Katholische Aktion“, die das „heidnische“ Brauchtum verfolgte, so sind es heute vor allem die erstarkenden fundamentalistischen Sekten, die den Maya-Kult unterdrücken. Erst seit kurzer Zeit wagen es die Schamanen wieder offener aufzutreten, und eine Serie von nationalen Treffen von Maya-Priestern hat dem neuen Selbstverständnis der Indigenas Auftrieb gegeben.

Der Gegner ist heute für die rein indianischen Organisationen deutlicher als zuvor der Weiße, der Ladino. Die Unterdrückung wird nicht als Klassen-, sondern als Rassenproblem gesehen. Deswegen kam es auch im letzten Oktober beim Kontinentaltreffen der Volksorganisationen in Quetzaltenango zum Bruch: Eine Fraktion wollte die Alternativfeier zum 500-Jahr-Entdeckungsspektakel als Kampagne der Indigenas, der Schwarzen und der Volksorganisationen organisieren, die andere Fraktion bestand auf einer rein indianischen Veranstaltung. Als Ergebnis des Streits wird es am 12.Oktober diesen Jahres zwei Treffen geben: ein rein indianisches in Mexiko und eines mit breiter Beteiligung in Managua.