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Dragan Velikić:

■ Ein „Brief an Salman Rushdie“

Es gibt ein chinesisches Märchen, dessen Motive von Marguerite Yourcenar in ihrer Erzählung Wie sich Wang-Fo rettete benutzt werden. Die Hauptfigur, der Maler Wang-Fo, führte im großen Kaiserreich ein Wanderleben und lebte von seinen Bildern, die er gegen Nahrung eintauschte. Doch eines Tages wurde er, während er schlief, von Soldaten gefangengenommen und vor den Kaiser geführt. Auf dem Thron saß ein Jüngling, der dem alten Maler drohte, er werde ihn blenden lassen, denn die Welt, die Wang-Fo auf seinen Leinwänden geschaffen habe, sei nicht jene unvollkommene Welt, in der die Menschen leben müßten. Der junge Kaiser war aber nun in Gemächern aufgewachsen, in denen sein Vater eine große Sammlung von Bildern eben dieses Malers Wang-Fo besaß. Bevor er Wang-Fo für die Lügen, die er durch seine Kunst verbreitet hatte, blenden ließ, befahl der junge Kaiser, eine unfertige Leinwand vor den Maler hinauszutragen. Als Wang-Fo darin sein Jugendwerk erblickte, erkannte er zugleich, daß dies nur der Entwurf einer Szene war: ein Kahn am Ufer, graue Klippen und ein unruhiges Meer. Umstellt von Wachen begann Wang-Fo zu malen. Plötzlich aber stieß er den noch kaum vollendeten Kahn vom Ufer ab und fuhr aufs Meer hinaus, das wie von blauer Jade war. Und bevor noch der verblüffte Kaiser seinen Höflingen befehlen konnte, den Maler zu ergreifen, hatte sich der Kahn in einen winzigen Punkt verwandelt, und Wang-Fo war in der Tiefe seines Bildes verschwunden.

Ist es nicht der Traum eines jeden Künstlers, am Schluß in seinem Werk zu verschwinden?

Drei Jahre sind vergangen, seit der Schriftsteller Salman Rushdie durch ein fanatisches Urteil in den Untergrund getrieben wurde. Der vorgebliche Grund für die Verfolgung sind die Satanischen Verse, ein Buch, in dem kein vernünftiger Mensch eine Häresie finden kann. Dennoch, der Pfeil des Hasses ist abgeschnellt, und sein Schatten hinterläßt eine unbegreifliche Spur auf dem Antlitz der Erde. Die Stimme der Vernunft hat mittlerweile an Intensität verloren, es ist zu einer gefährlichen Gewöhnung gekommen, vielleicht sogar zu einem Einverständnis mit dem bestehenden Zustand. Aber jedem muß klar sein, daß Rushdie deshalb als Opfer ausgewählt wurde, weil er ein gutes Anwendungsmuster abgibt. Jene, die ihn verurteilt haben, wollten die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Die „Beleidigungen“ eines Anonymus hätten niemals den Anlaß zu dem Anathema gegeben.

Es ist indes ein Faktum, daß Salman Rushdie auch weiterhin mit dem Bannfluch belegt ist, daß aber die Stimmen des Protestes immer schwächer werden, daß die Kaskaden der Wut über jene, die Haß predigen, allmählich versiegen und daß die resignierende Erkenntnis um sich greift, wie wenig doch der Einzelne ausrichten kann. Vielleicht vermag der Einzelne wirklich nicht viel, aber das allermindeste, was er vermag, ist die Weigerung, den jetzigen Zustand hinzunehmen, und das ist bereits keine Hiflosigkeit mehr. Die eigentliche Frage anläßlich des Falles Rushdie ist, wie dem verurteilten Schriftsteller helfen? Wie das Risiko mit ihm teilen und so die Drohung auffangen?

In der Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, in Istrien, gibt es auf den Feldern kleine fensterlose Bauten, die den Hirten bei Regen als Unterstand dienen. Das sind die kazuni, aus gewöhnlichem Feldstein errichtete Hütten mit einem kegelförmigen Dach, das von kleinen Steinplatten gebildet wird, derart, daß der Raum ohne Pfosten und Bögen überbrückt wird, nur durch das unmerkliche Sich-Vorschieben jeder nachfolgenden Steinplatte hin zum Mittelpunkt des kazun.

Auch dieser Text will solch ein kleines Sich-Vorschieben sein, um den Abgrund des Hasses zu überbrücken.

Eine ganz andere Frage ist es, wieviel Glaube überhaupt in jemandem sein kann, der einen Schriftsteller zum Tode verurteilt? Ist Gott denn ein Sandsack, den jeder Schurke wie einen Brustschild vor sich herschieben kann? In jedem Fall hat die Drohung, die über Salman Rushdie ausgesprochen wurde, zum Ziel, dem Schriftsteller das Recht zu nehmen, auf den Demiurgenakt einer Erschaffung der Welt aus Worten. Doch der Schriftsteller ist kein Konkurrent Gottes, er ist nur ein Teil des göttlichen Schöpferwillens, und früher oder später werden die Schurken allein dastehen auf der Lichtung neben ihren Brustschilden, die sie mit göttlichen Namen versehen haben.

Während ich diese Zeilen schreibe, nähren sich die Menschen in meinem Land von Haß. Doch Haß ist, wie Spinoza sagt, nur eine Trauer, von der fälschlicherweise angenommen wird, ihre Ursache läge in der äußeren Welt. Das ist jene Trauer, von der Rushdie in seinem Buch Harun und der Ozean der Geschichten schreibt. Dieses Buch ist die wahre „Antwort“ auf den Haß, denn der Pfeil, der abgeschnellt ist, ist gegen alle gerichtet, die wie der chinesiche Maler Wang-Fo die Welt anders sehen. Märchen sind ein Gemeingut unser aller, ungeachtet des Glaubens oder der Hautfarbe. In dieser Schicht erahnen wir, daß wir derselben Erzählgeschichte entstammen. Doch was uns von den übrigen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet, ist die Fähigkeit zum Sprechen. Und gerade die möchten diejenigen auslöschen, die den Pfeil des Hasses abgeschnellt haben.

Aber wie kann es geschehen, daß der Pfeil sein Ziel nicht findet?

So, daß er in den Ozean der Geschichten stürzt, in eben jenen Ozean, von dem Rushdie in seinem Buch spricht. Denn als dort der Erzähler Rasid die Gabe des Geschichtenerzählens verloren hat, führt ihn sein Sohn Harun auf den unsichtbaren Erdtrabanten Kahani, dorthin, wo sich der Ozean der Geschichtenströme befindet, die größte Bibliothek des Weltalls. Sie brechen auf aus einer Stadt, die so traurig ist, daß man ihren Namen vergessen hat. Der Ozean der Geschichtenströme ist eine Quelle, an der jeder Geschichtenerzähler seinen Durst löscht. Aber auf dem unsichtbaren Mond Kahani gibt es zwei Zonen: die Welt der Gaps, ganz in der Sonne gelegen, und die Welt der Finsternis, wo die Cupavals leben. Deren Welt ist die Welt der Schatten, dort werden Bücher unter Verschluß gehalten und Zungen abgeschnitten. Die Cupavals haben den Ozean der Geschichtenströme vergiftet. Zum Schluß vermögen die Mächte des Lichts aber doch zu siegen, und die namenlose Stadt „erinnert“ sich ihres Namens. Und der ist Kahani, das heißt: Erzählgeschichte. Folglich ist der einzig mögliche Weg die Rückkehr in die Erzählgeschichte.

Ich schreibe diese Zeilen in einem Land, wo es auf jeder der zerstrittenen Seiten Gaps und Cupavals gibt, getrennt durch eine Zone des Todes, in der Pfeile den Namen Gottes beschwören. Aber können denn Pfeile des Hasses den Namen Gottes tragen? Und was kann ein Künstler tun, der in keiner Kriegsuniform ein für ihn passendes Kleidungsstück sieht? Ich glaube, daß er zumindest etwas tun kann: Er kann seine Geschichte forterzählen und sich so den falschen messianischen Heilsverkündern entgegenstellen. Im übrigen ist jedes künstlerische Werk nur ein Widerspiegeln der Welt, die von Gott geschaffen wurde. In diesem Werk gibt es auch den Kahn, den der Pfeil des Hasses nicht erreicht.

Zum Trost will ich mir einen Satz von Danilo Kis aufsagen aus seinem Roman Die Sanduhr: „Es ist besser, man gehört zu den Verfolgten als zu den Verfolgern.“

Dragan Velikić

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