Norman Mailer:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Lieber

Salman Rushdie,

in den letzten Jahren habe ich oft an Sie gedacht. Viele von uns haben mit einer inneren Kühnheit zu schreiben begonnen: als ob wir, wenn wir nur unentwegt nach der gefährlichsten unserer inneren Stimmen suchen, irgendwann, früher oder später, etwas Fundamentales in dieser Welt beleidigen, hohnsprechen würden, und unser Leben wäre in Gefahr. So dachte ich, als ich zu schreiben anfing, und so dachten viele andere — aber Sie sind der einzige von uns, der schließlich den Beweis dafür gab, daß diese Vermutung nicht unbegründet war. — Nun leben Sie in einem lebendigen Gefängnis unterdrückter Paranoia, das die äußerste Willensanstrengung erforderlich macht, selbst wenn Ihre poetische Kraft Schaden nimmt. Die Rolle eines lebenden Märtyrers ist nicht glücklich für einen ernsthaften und begabten Schriftsteller. Das kann niemand brauchen. Es ist schwer genug, das beste aus sich herauszuholen, auch wenn man nicht, jeden Tag neu, hundert Pfund Gewicht auf dem Buckel hat — aber Sie sind in dieser Situation.

Wenn ich glauben würde, daß das Beten hilft, würde ich Ihnen gern irgendeine Art von Kraft oder Ermutigung übermitteln, denn wenn Sie diese Situation transzendieren können (schwieriger als jede andere, die wir kennen), wenn Sie ein neues literarisches Werk schreiben können — dann werden Sie uns alle verjüngen, und die Literatur wird, in diesem Maße, bereichert.

So — die besten Wünschen an Sie, alter Freund, wo immer Sie sich befinden, und mögen die Musen Sie umarmen.

Cheers,

Norman Mailer

Aus dem Amerikanischen von Elke Schmitter.