Die Armut ist ein Armutszeugnis der Politik

■ Betr.: "Zwangsurlaub für drei Millionen", taz vom 6.2.92

betr.: „Zwangsurlaub für drei Millionen“, taz vom 6.2.92

Die Wirklichkeit hat sich also doch wenig um das Gesundbeten der Politiker geschert: Noch nie seit der Krise in der Weimarer Republik war die Arbeitslosigkeit so groß wie heute, und in den neuen Bundesländern ist jeder sechste Erwerbstätige ohne Arbeitsplatz. Daß die Wirtschaft dort nun 44 Milliarden Mark investieren will, hört sich auch sehr imposant an und soll wohl auch dazu dienen, dem Hoffnungsprinzip neue Nahrung zu verschaffen, in Wirklichkeit ist dies aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein: Es lassen sich damit gerade 200.000 Arbeitsplätze schaffen!

Aber diese aktuelle Statistik aus Nürnberg ist überhaupt weit mehr als ein Zahlenspiel, vor allem wenn man die Verarmungstendenzen hinzunimmt. Daß über vier Millionen Menschen in der Bundesrepublik unterhalb des — wie auch immer und wohl auch fern jeder Realität errechneten — Existenzminimums von 530 Mark leben, läßt manches an der heutigen Politik sehr fraglich erscheinen. Und wenn sich in den letzten Jahren gleichzeitig die Zahl der Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 25.000 Mark verdoppelt haben, wird diese Politik sogar suspekt!

Dahinter verbirgt sich eine ganz eigenartige Form der sozialen Kultur, da wachsen der Wohlstand und gleichzeitig die Armut. Die Leidtragenden dieser immer weiter auseinanderdriftenden Schere sind Millionen Kinder, etwa die in den Arbeitslosenfamilien. Mehr als fünf Millionen dürften es inzwischen wohl sein — in einem Land, das sich zu den reichsten der Welt zählt. Wo ist der mahnende Ruf und die Initiative des Jugendministeriums? Die Armut ist ein Armutszeugnis der Politik.

Kein Zweifel, die Herausforderungen, die im Zusammenhang mit den neuen Bundesländern entstanden, sind enorm groß. Zu groß für die bundesdeutschen Politiker, denn sonst würde ihnen mehr einfallen als Verzichtsappelle. Wie, bitteschön Herr Möllemann, soll jemand auf etwas verzichten, das er gar nicht besitzt? Wer nun auf die immer wieder beschworenen Selbstheilungskräfte der sozialen Marktwirtschaft schielt, wird schon bald die Quittung bekommen — in Form einer zunehmenden Verarmungstendenz. Und weil gleichzeitig andere Menschen ihren Wohlstand verbessern, wird dies dann auch noch als erfolgreiche Politik verkauft werden. Wolfgang Lütjens,

Deutsche Hilfe für Kinder

von Arbeitslosen e.V., Hamburg