Die runde Banane von Courchevel

Der patriotische Zöllner Fabrice Guy gewann die Nordische Kombination und holte die langersehnte erste Goldmedaille für Gastgeber Frankreich  ■ Aus Courchevel Matti Lieske

Eine entsetzliche Botschaft hatte Frankreich just an dem Tag zu verkraften, als es bei der Nordischen Kombination in Courchevel um olympische Medaillen ging: aufgrund eines Spätfrostes, so verkündete der Finanzminister, sei die Weinproduktion des Landes im letzten Jahr um 35 Prozent gesunken. Ob das für alle reicht, ist mehr als fraglich, und so mußte unbedingt Trost her. Was würde sich für diesen Zweck besser eignen als ein leibhaftiger Nationalheld, einer, der goldenen Balsam auf die alkoholischen Wunden gießt, ein aufrechter Bursche, nett, freundlich kernig, einer, der vor Patriotismus strotzt wie de Gaulle und Napoleon zusammen — kurz: einer wie Fabrice Guy.

„Bei der Siegerehrung will ich die Marseillaise hören“, hatte der 23jährige Zöllner kategorisch nach jenem Musikstück verlangt, das gerade wieder wegen seines blutrünstigen Textes in Verruf geraten ist. Und er bekam die Marseillaise. Nicht nur bei der Siegerehrung, sondern sogar auf dem Klo, wo sie ihm dankbare Fans als Begleitmusik zur Dopingkontrolle darbrachten. Ohne analysierbarem Erfolg allerdings: er brauchte zur Abgabe seiner Probe genauso lange wie der Bronzemedaillengewinner Klaus Sulzenbacher aus Österreich. Bei dem spätgeborenen Landsmann der Marie Antoinette kann die demotivierende Wirkung der Marseillaise allerdings auch kaum verwundern.

Die erste Goldmedaille für die Gastgeber dieser Spiele war nach den Weltcup-Erfolgen des Fabrice Guy durchaus vorhersehbar. Dennoch kamen die Franzosen nicht gerade in Massen an die Strecke des entscheidenden 15-km-Langlaufs. Den gemütlichen Fernsehsessel mit der umständlichen Fahrt ins hochgelegene Courchevel zu vertauschen, schien auch im Zeichen patriotischen Hochgefühls ein wenig viel verlangt. Im Zielraum dominierten einmal mehr die Norweger, die immer dann außer Rand und Band geraten, wenn irgendwo eine Loipe in der Nähe ist, ihren Weltmeister Fred Börre Lundberg, der im Springen nur den neunten Rang belegt hatte, aber bloß zum vierten Platz jubeln konnten.

Fabrice Guy war auf der Schanze von Courchevel hinter dem langlaufschwächeren Ofner (Österreich), der am Ende Fünfter wurde, und dem Japaner Mikata (34.) auf den dritten Rang gehüpft und lag vier Sekunden vor Sulzenbacher, Silbermedaillengewinner von Calgary und seit vielen Jahren einer der stärksten Kombinierer. Was Guy an Nationalstolz im Übermaß besitzt, fehlte ihm lange an Ehrgeiz. „Ich war immer unter den ersten Zehn“, erzählt er, „das fand ich ganz prima.“ Doch sein Trainer trichterte ihm mühselig ein, daß er mit besseren Sprungleistungen ja auch mal gewinnen könnte.

„Ich mußte an Sulzenbacher ranspringen, um ganz vorn dabeizusein“, sagt Guy, der seit jeher ein brillanter Läufer war. Also brachte er den Sommer damit zu, seine Sprungtechnik zu ändern. „Ich bin immer die Banane falsch rum gesprungen“, erläutert er plastisch. „Dann haben wir Anlauf und Absprung aggressiver gemacht, und dadurch hat sich auch das Flugverhalten geändert. Jetzt springe ich viel runder.“ Konkurrent Sulzenbacher bestätigt traurig die für ihn leidvolle Entwicklung des Franzosen: „Früher hat er meist zwei Sprünge verhauen und einen guten gehabt, jetzt bringt er immer zwei gute.“

Auf den ersten fünf Kilometern hatte der Österreicher dem vier Sekunden vor ihm gestarteten Guy noch im Nacken bleiben können, in der zweiten Runde kam jedoch der Einbruch. Die Veranstalter hatten eine ungemein schwierige Piste mit giftigen Steigungen angelegt, so wie sie die Franzosen lieben und wie sie die Österreicher hassen. „Ich wußte, ich darf nicht zu schnell losfahren, sonst breche ich ein“, ärgerte sich Sulzenbacher, „aber da war Fabrice vor mir, und ich dachte: Olympische Spiele, da mußt du Harakiri fahren.“

Seine Kamikaze-Taktik kostete ihn sogar noch die Silbermedaille, denn in der letzten Runde wurde er vom entfesselt laufenden Franzosen Sylvain Guillaume, 13. im Springen, abgefangen, der Fabrice Guy glatt die Schau stahl. Denn während jener von der zweiten Runde an gemütlich dem sicheren Sieg entgegenglitt, folgten Kameras und Publikum fast nur noch der packenden Aufholjagd Guillaumes, der sich auch durch zwei Stürze nicht nachhaltig bremsen ließ. „Als ich auf den dritten Platz vorgefahren war, dachte ich: Na prima, Bronze, ist ja wunderbar. Doch die Zuschauer feuerten mich weiter an und dann sah ich Klaus“, erzählte Guillaume im Ziel.

„Das kannst du kaum beschreiben“, erinnerte sich Sulzenbacher mit Grausen an jenen Moment, „da bist du schon fast am Umkippen, und dann kommt plötzlich einer. Da wirst du total nervös und verkrampfst. Die Silbermedaille war unmöglich zu halten.“

Der österreichische Veteran wird nach seiner zweiten Olympiamedaille vermutlich aufhören, ganz andere Pläne hat Fabrice Guy: „Ich mache bis 1998 weiter.“ Im Frühjahr will er den V-Stil erlernen, um dann 1994 bei den nächsten Winterspielen in Lillehammer den Norwegern zu zeigen, was eine Loipe ist. Und zur Krönung soll die Botschaft des Fabrice Guy dann noch einmal 1998 im japanischen Nagano vom Podium schallen: „Allons, enfants...“