DEBATTE
: Die Übertragung

■ Der Stasi-Komplex und die andere deutsche Vergangenheit

Es herrscht eine neue Intensität in den Redaktionen westdeutscher Zeitungen und Fernsehmagazine. Presseleute verfolgen mit Zähigkeit verwickelte Stasi- Fährten, TV-Moderatoren zeigen Ergriffenheit, und beim Interview mit dem gefaßten Täter legen sie eine Fähigkeit zum Zugriff an den Tag, die längst vergessen schien. Das Echo des Erdbebens Stasi kommt aus den West-Medien. Am Prenzlauer Berg dagegen kann man die Frage hören: Was machen die da mit unserer Geschichte, warum sind sie so gepackt? Warum auch — der Ton wird fast klagend — die mangelnde Bereitschaft, sich auf die Normalität und Verstrickung mit dem Machtsystem Stasi so einzulassen, daß dabei wenigstens ein dünnes Signal der Entlastung herauskäme?

Da zeigen sich die westlichen Stasi-Beobachter aber eigentümlich unerbittlich. Zu Recht. Man kommt nicht umhin, das sofort zu betonen. Heißt es aus den „neuen“ Ländern nicht schon wieder: Schließlich haben wir jetzt dringendere Probleme? Die Mieten, die Preise, die Arbeitslosigkeit! Aber das lassen die aufmerksamen Beobachter aus dem Westen jetzt nicht mehr durchgehen: Das kennen sie, die westdeutschen Nachkriegsdeutschen! Wir durften bereits erfahren, daß Wohlstandsprobleme über kurz und lang den Schaden nicht abwenden helfen, den die gezielte Blindheit vor der eigenen Geschichte an der ganzen Gesellschaft anrichtet. Und dennoch bleibt die Frage nach den Quellen der Unerbittlichkeit. Der Verdacht liegt nahe: Da wird nicht nur der Umgang der DDR-Bürger mit ihrer Stasi und der Mechanismus des Repressionsapparats der Stasi behandelt — da wird deutsche Normalität behandelt, die nicht normal ist, und im Westen nie derart unter die Lupe genommen werden durfte; da wird die Verstrickung der Deutschen mit der Macht behandelt, diese atemberaubende Fähigkeit, nicht nur jede „humane Orientierung“ (Ralph Giordano) zu verlieren, sondern auch jede Differenzierungsgabe des gesunden Menschenverstands über den Haufen zu werfen.

Die Westdeutschen haben Nachholbedarf in Sachen Geschichtsbearbeitung — auch wenn sie nicht müde werden, das Gegenteil zu beteuern. Und jetzt ist die Gelegenheit günstig: die einmalige historische Chance, eine Übertragung im klassischen Sinne zu bewerkstelligen, die die längst übertünchte Blockade vielleicht doch noch auflösen könnte. Unter diesem Licht stellt sich die Operation Stasi als Säuberungsaktion dar, als unerwartete Chance auf Wiedergutmachung der „zweiten Schuld“ (so Ralph Giordanos Wort für die große deutsche Verdrängungsaktion der Nazi-Vergangenheit), als Operation an der eigenen versauten politischen Hygiene — eine verhältnismäßig schmerzlose Operation zudem, eine Operation am eigenen anderen. Da muß man ja zugreifen. Deutsche sind es, aber eben die anderen Deutschen.

Die Täter sind interessanter als die Opfer, klagen Fuchs und Biermann. Das bleibt tatsächlich verwunderlich. Die westlichen Beobachter ergreifen ihre Chance nicht mehr, indem sie sich Entlastung über das Mitleid mit den Opfern oder gar durch Identifikationstricks verschaffen. Jetzt sind die Täter interessanter, weil sie die anderen sind. An denen läßt sich sezieren, was sich bei den Nazi-Tätern, den vielen „normalen“ Volksgenossen, noch verbat: die Bereitschaft, Macht gleichermaßen zu erleiden wie auszuüben, die Mechanismen des Selbstbetrugs, die Opfer- Täter-Schizophrenie in einem Kopf, die schleichende Anerkennung der Absurditäten eines deutschen Regimes durch die scheinbar nur Beherrschten — und deren Rechtfertigungslügen danach.

Vom Mitläufer zum IM als Freizeittäter

Der Begriff des Mitläufers erfährt so eine späte Übersetzung in der Figur des IM, der Idee des Freizeittäters. Deshalb sind sie für den, der mit der Gnade der späten Geburt geschlagen ist, interessanter als die schlichten Meister der Repression, die diversen Stasi-Generäle, ZK-Bürokraten und Grenztruppenkommandanten. Deren Auslassungen werden mit eigentümlichem laissez-faire akzeptiert und abgehakt. Eine Ahnung von schon Bekanntem wird in dieser Nachlässigkeit sichtbar.

Mit dem Hinweis auf die spezielle Verpflichtung vor der eigenen Geschichte rennt man in Deutschland bei den professionellen Beobachtern der Gegenwart offene Türen ein — auch wenn man sich dabei des Gefühls nicht erwehren kann, es herrsche an diesen Türen ein bißchen Durchzug. Der Stasi-Komplex als Chance zur Wiedergutmachung vor der „zweiten Schuld“? Keine Frage, die Bearbeitung der DDR-Vergangenheit hat auf intime Weise etwas mit der „anderen“ deutschen Vergangenheit zu tun. Man muß Geschichte aus Geschichte heraus verstehen, Individualisierung als Arbeitsprinzip also ist sicher richtig. Die relative Fremdheit der komplexen Materie zwingt den westlichen Betrachter jedoch nicht nur zum distanziert-differenzierten Blick, sie gibt auch erst die Erlaubnis dazu — ganz anders als in der Auseinandersetzung mit den „Nazi-Tätern unter uns“. Welche Mechanismen werden da frei? Vor allem aber: Wie wird aus der Sammlung individueller Verstrickung, Banalität und Schuld wieder der gesellschaftliche Zusammenhang erkennbar? Wie wird — im gesellschaftlichen Diskurs — Geschichte aus den Geschichten, wie werden Biographien wieder zu Politik? An diesem Problem ist die Bundesrepublik bereits einmal gescheitert: Die individuellen Geschichten wurden zum Filz der Verdrängung; der Verdrängungsprozeß machte sich zur Geschichte, politisch sind seine Folgen. Der westliche Zugang auf die Stasi-Geschichten lädt nachgerade dazu ein, die scheinbare Zusammenhanglosigkeit zu reproduzieren und so im nachhinein den deutschen (Nazi-)Täter wieder aus seinem Volk zu lösen (und das Volk von seinen Tätern zu erlösen): Nicht die einzelnen und das gesamte deutsche Gemeinwesen haben das Nazi- System gezimmert, hatten Teil an seinem Terror — nur „im deutschen Namen“ — so Kanzler Kohl noch immer — ist da irgendwie durch irgendwen etwas geschehen, vor der Stunde Null.

Die jungen Westdeutschen haben ihr Deutschsein bislang gerne im eigenen Selbstbild vom „Europäer“ vergessen. Genauso verdrängen sie jetzt die gemeinsame deutsche Vergangenheit mit den Brüdern und Schwestern aus dem deutschen Osten im Selbstbild vom nunmehr gelungenen, in toleranter Alltagskultur geerdeten, bundesrepublikanischen „Demokraten“. (Die eigenen Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Repressionsapparat der wehrhaften Demokratie in den siebziger Jahren bleiben ohnehin seit neuerem in eigentümlicher Weise ausgeblendet.) Der Mechanismus der Verdrängung als Ergebnis der Verdrängung: Wo Gemeinsames und damit deutsche Kontinuität nicht mehr wahrgenommen werden darf, da liegt der Hinweis auf die Verharmlosung der Nazi-Vergangenheit durch den Vergleich mit der DDR-Vergangenheit nahe. Hier funktioniert die „Übertragung“ nicht, hier herrscht die alte Abwehr, hier ist Wiedergutmachung kein Problem — keine Chance, auch über die Konfrontation mit der ostdeutschen Vergangenheit zur deutschen Vergangenheit zu kommen.

Übertragung im klassischen, psychoanalytischen Sinne ist ein aufmerksam kontrollierter Prozeß, quasi unter Laborbedingungen. Im gesellschaftlichen, im historischen Prozeß gibt es keine Kontrollinstanz; wenn hier die alten Mechanismen der Vergangenheitsbearbeitung nicht aus eigenem Wissen heraus durchbrochen werden, reproduzieren sie sich. Wiedergutmachung vor der zweiten Schuld kann es da nicht geben — nur ein Lernen aus der Erfahrung der verbissenen Verdrängungstricks der bundesdeutschen fünfziger und sechziger Jahre und ihrer Folgen in den letzten beiden Jahrzehnten, bis in die Gegenwart. Es hilft nur genaues Hinsehen — und die Rekonstruktion der gemeinsamen Geschichte aus den individuellen Geschichten. Andreas Rostek

Lebt als freier Journalist in Berlin