Nichts Neues vom Prenzlauer Berg

■ Dichterworte von Rainer Schedlinski und anderen in der LiteraturWERKstatt zu Pankow

Natürlich kam ich zu spät. Die LiteraturWERKstatt Berlin liegt versteckt in einer Pankower Seitenstraße, nicht einfach zu finden, wenn man mit den lokalen Verhältnissen nicht vertraut ist. Westberliner BVG-Angestellte verstehen statt »Majakowskiring« notorisch etwas in Richtung »Maier«, das Ostberliner Bus-System kennt seine eigenen verschwiegenen Gesetze. Immerhin war auch auf dem Podium noch ein Platz leer. Der einzige Westredner der Veranstaltung mit dem interpunktionsreichen Titel »... das Ende des Prenzlauer Bergs...?! ... und die Stasi...?« sollte dort sitzen. Als er kam, war es ihm peinlich. Er hatte sich verfahren.

Obwohl von draußen nichts darauf hinweist, sind die Räume der großbürgerlichen Villa mehr als gut gefüllt. Ein Teil des Publikums sitzt auf dem Boden, hat die Fensterbänke als Sitzflächen erobert oder lehnt sich nachdenklich an einen kleinen Flügel, der trotz der Abdeckung aus grünem Filz wirkt, als hätte er schon bessere Tage gesehen. Ein regelrechtes Sit-in. Fast alle sehen gespannt aus, machen sich eifrig Notizen oder tauschen mit dem Nachbarn Blicke. Eine gut funktionierende Lautsprecheranlage überträgt jedes Räuspern der Redner in die entlegensten Winkel der Lokalität. Die Redebeiträge werden mitgeschnitten. Man spürt: Kultur ist Nebensache. This is not (only) a Lesung.

Klaus Michael, Leiter des in die Schlagzeilen geratenen Galrev-Verlags hat ein paar einleitende Worte gesprochen, der Schriftsteller Jörg Wähner ein Plädoyer für die Autonomie der Kunst im allgemeinen und der Dichtung vom Prenzlauer Berg im besonderen gehalten, doch der Mann, den alle reden hören wollen, heißt Rainer Schedlinski. Der redet nicht, er liest. Aus einem Text, den er gar nicht für diesen Abend geschrieben hat, wie er immer wieder betont. Es handelt sich um eine Art Essay, der elaboriert und voltenreich Probleme der DDR-Öffentlichkeit anspricht. Es habe eine offizielle und eine inoffizielle Öffentlichkeit gegeben, wobei die inoffizielle im Grunde die gültige gewesen sei. Jeder in der ehemaligen DDR wußte das. Entkommen konnte man ihr nicht. Außer der Anrede »Guten Tag« war im Grunde alles Information. Die Stasi, und mit ihr die Schriftsteller, die in irgendeiner Weise mit ihr zu tun hatten, war also ein pervertierter Ersatz für die nichtexistente öffentliche Meinung.

Nicht schlecht gegeben. Schedlinski liest und liest. Schlimm seien die Verhältnisse gewesen, aber doch nun einmal Realität, »grausam«, aber auch »belustigend«. Es gelte, alles erst einmal zu beschreiben, nicht zu verdammen oder in Rechtfertigungen zu verfallen. Schedlinski will es sich nicht einfach machen, und doch wächst der Unmut im Saal, je länger er sich in seine Ausführungen vertieft, fast verbohrt. Schließlich muß er abkürzen, Gedankengänge überspringen. Erst zum Schluß kommt er zur Hauptthese seines Vortrags, sie unterläuft ihm quasi: Auch wenn es unpopulär sei, sagt er unter Räuspern und Versprechern, auch wenn es unpopulär sei, so etwas heute zu sagen: mit Hilfe der Stasi sind auch Leute freigekommen, haben ausreisen dürfen oder sind in den Genuß kleiner Verbesserungen gekommen.

»Rechtfertigungsprosa« ist das böse Wort, das später aus dem Auditorium fällt. Doch zuvor spricht Detlef Opitz, ein »Opfer« von Schedlinskis Tätigkeit als »informeller Mitarbeiter«. Opitz wiederholt noch einmal den bereits zuvor öffentlich geübten Schulterschluß mit seinem Freund, wendet sich gegen die Vorverurteilung in westdeutschen Feuilletons: hier werde die Praxis eines von Schnitzler auf andere Weise fortgesetzt. Auch Opitz wählt seltsamerweise eine »literarische« Form für seine Ausführungen. Der Text, den er vorträgt, ist ein Auszug aus der Rede, die er Wochen zuvor anläßlich des an ihn verliehenen Klaus-Piper- Stipendiums gehalten hatte, und so hört er sich auch an: gewählt, gebildet und ein wenig gespreizt, mit einer rhetorischen Spannweite, die von Erasmus von Rotterdam bis hin zu den Medicis reicht. »Es gibt Namen, an denen sich das plurale tantum demonstrieren ließe«, philosophiert er, doch Opitz nennt sie nicht. Statt dessen faßt er das Verhältnis zur Stasi in das schaurigschöne Bild von der Ehe, deren Scheitern Schmerz hinterläßt — auch wenn man sich gegenseitig gehaßt hat.

Zu fortgeschrittener Stunde schließlich die dritte Art, die Stasi- Verstrickung gleichzeitig zu benennen und zu verleugnen. Gerhard Wolf führt sie vor, der als Lektor beim Aufbau-Verlag die Reihe Außer der Reihe mit Literatur vom Prenzlauer Berg betreute. Die Prenzelberg-Szene — in seinen Augen vor allem ein neuerlicher Beweis für die historische Frontstellung moderner Avantgardebewegungen: Immer setzten sie sich gegen eine schlechte Wirklichkeit und gegen die Vorgängergeneration zugleich zur Wehr. Politische Moral sei eben kein Maßstab für ästhetische Gültigkeit, eine Einschätzung, die auch der später hinzugekommene Wolfgang Dreßen, Mitarbeiter der Zeitschrift 'Niemandsland‘ (früher vom bundesdeutschen Innenministerium zur Erforschung der DDR-Wirklichkeit gesponsort, jetzt bei Galrev), teilt: Wer Ernst Jünger sagt, muß auch Rainer Schedlinski sagen; Vertrauen und Tugend sind totalitäre Kategorien, die Auseinandersetzung verhindern statt ermöglichen. Das nächste Heft von 'Niemandsland‘ wird es beweisen. Schon bald.

Nur nicht jetzt, jetzt nicht. Aufatmen im Saal, als der rhetorische Teil des Abends zu Ende ist, aber kein erleichtertes. Der Rest ist Diskussion — ein hilfloser Versuch, die literarischen, essayistischen oder literaturhistorischen Anstrengungen des Abends auf den Boden nicht benennbarer Tatsachen zurückzuführen. Ist die Wahrheit konkret oder ist sie abstrakt? Hätte Schedlinski lieber fünf Seiten über sich schreiben sollen als zwanzig über Gott, die Welt und die Stasi? Wer darf überhaupt jetzt wie über was schreiben? Ist der Geständniszwang nicht doch ein getarntes Systemmanöver »des Westens«? Sind Rationalisierungen wie die von Schedlinski der Anfang von Aufarbeitung oder die Fortsetzung von Verdrängung? Sind die Täter die Opfer des Systems, oder die Opfer Teil des Systems der Täter? Oder beides? Von imaginären Magisterarbeiten ist die Rede, die das Stasi-Dilemma endlich sehr detailliert behandeln. Wo sie zu haben sind, weiß keiner.

Um elf ist Zapfenstreich in der Pfarrgemeinde. Mäntel und Schals werden aus den Ecken geklaubt, matter Small Talk um die Redner und einige versprengte Literaturbetriebler — darunter sogar prominente —, die sich beim verwaisten Büchertisch des Verlags eingefunden haben. Ein wenig Galgenhumor macht die Runde: Die Wirklichkeit ist ein Stasi-Interview. Prost.

Nichts Neues vom Prenzlauer Berg. Als die Lichter ausgehen, ist auch der unauffällig vor dem Gebäude geparkte Übertragungswagen vom RIAS längst verschwunden. Ach ja: Sascha Anderson war nicht gekommen. Thomas Groß