Volle Fahrt ins schwarze Loch

■ Nach 90 Jahren U-Bahn können offenbar nur noch Straßenbahnen das Verkehrsproblem lösen

Eigentlich wurde das Zeitalter der Berliner U-Bahn nicht unter, sondern über Tage eingeläutet. Denn die erste Fahrt am 15. Februar 1902 führte auf der Hochbahn vom damaligen Stralauer Tor, dem während des Zweiten Weltkrieges zerstörten Hochbahnhof Osthafen, zum Potsdamer Platz. Sechs Kilometer lang war dieser Streckenabschnitt. Weil der damalige preußische Minister für öffentliche Arbeiten und andere Honoratioren daran teilgenommen hatten, wurde das Ereignis fortan als »Ministerfahrt« in den lokalen Geschichtsbüchern geführt.

Am heutigen Samstag, 90 Jahre danach, wird eine Sonderfahrt mit Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) vom Schlesischen Tor bis zum Gleisdreieck an die Geburtsstunde der Berliner U-Bahn erinnern — eine verkürzte Wiederauflage der Ministerfahrt. Denn obwohl die BVG heute 134 Kilometer Länge mit insgesamt 163 Stationen umfaßt, liegen noch immer viele Bahnhöfe wie verlorene Inseln im Stadtgebiet — etwa der Potsdamer Platz, einst einer der bedeutendsten Verkehrsknotenpunkte Europas.

Derzeit wird fieberhaft an der Wiederherstellung der Strecke zwischen Wittenbergplatz und Mohrenstraße (bis vor kurzem Otto-Grotewohl-Str.) gearbeitet. Die vier Kilometer lange Linie mit ihren vier Bahnhöfen soll bis 1993 wieder in Betrieb gehen und die Endbahnhöfe Ruhleben mit Pankow verbinden. Veranschlagt wurden dafür 180 Millionen Mark. Sämtliche Schienen, Schwellen und Gleisanlagen müssen erneuert werden und die zwei Kilometer Brückenkonstruktion sind zum Teil schwer verrostet. Doch die Zeit drängt. Schließlich wird der Potsdamer Platz mit den Firmengiganten Daimler und Sony zu dem Dienstleistungszentrum der Bundesrepublik ausgebaut.

Mögliche Verzögerungen scheinen eingeplant: Diese Woche verkündete der Senat, auf derselben Linie einen weiteren U-Bahnhof am Landwehrkanal zu bauen. Gebuddelt wird derzeit vor allem auch im Norden: an der Verlängerung der U8 bis Wittenau-Nordbahn und an der Verlängerung der U2 in Pankow bis zur Kirche. Weitgehend ungeklärt ist auch die Zukunft der einstigen Strecke Schlesisches Tor — Warschauer Brücke. Weil die Wiederherstellung der Oberbaumbrücke Millionen verschlingen wird und zudem technische und bauliche Probleme aufwirft, fordern Bürgerinitiativen statt dessen eine Straßenbahn, die beide Bahnhöfe miteinander verbindet.

Überhaupt ist der U-Bahn-Bau, einst als Allheilmittel gegen die Verkehrsprobleme einer Großstadt gepriesen, angesichts des knappen Berliner Haushalts immer umstrittener. In diesem Jahr wird das Defizit der BVG, die seit Anfang des Jahres mit der Ostberliner BVB zusammengelegt wurde, auf insgesamt 1,4 Milliarden Mark anwachsen. Verbände wie der »Verkehrsclub Deutschland« (VCD), die »Interessengemeinschaft Eisenbahn und Nahverkehr Berlin« (IGEB) oder die Fraktion Bündnis 90/Grüne plädieren aus Kostengründen für die Straßenbahn. Zum Vergleich: Ein Kilometer U-Bahn-Bau kostet heute zwischen 150 bis 200 Millionen Mark, die Straßenbahn hingegen nur zehn Millionen.

Seit der Vereinigung sind manche U-Bahn-Strecken zur Qual geworden. Täglich werden im Westteil 1,4 Millionen, im Osten rund 300.000 durch die U-Bahn befördert. Auf manchen Strecken wie der U6 herrscht zu Stoßzeiten dichtes Gedränge und Geschiebe. Seit längerem wird daher der 2,5 Minuten- Takt auf bestimmten Strecken, die besonders belastet sind, gefordert. Die BVG hält dagegen, daß dadurch das bisherige Zugsicherungssytem geändert werden müßte. Auch die Zeiten für die Kehrfahrten in den Endbahnhöfen müßten verkürzt werden.

Gerade die unattraktiven Arbeitsbedingungen — schlechte Bezahlung, Schichtbetrieb von Montag bis Sonntag und ein Krankenstand von rund 15 Prozent — machen der BVG seit längerem zu schaffen. Ob das kürzlich in die Diskussion eingebrachte »Jobticket« (verbilligte Monatskarte, die Unternehmer der BVG für ihre Angestellten abkaufen) die Finanzsituation der BVG wesentlich verbessern wird, ist zu bezweifeln. Sicher ist nur eins: Das Gequetsche in den U-Bahnen zu den sogenannten Verkehrsspitzenzeiten würde bei den derzeitigen Verhältnissen auf jeden Fall zunehmen. Immerhin: zum Nutzen der Umwelt. Severin Weiland