Geisterbahnhöfe

■ 90 Jahre Untergrund-Bahn — Geschichten, die das Leben schrieb/ Die U-Bahn steckt voller Erinnerungen, literarischen und erlebten, wie »Emil und die Detektive« oder die Maueröffnung

Manchmal, wenn ich auf dem U-Bahnhof Nollendorfplatz eine alte Frau sehe — dort, wo die modernste automatische U-Bahn-Technik mit dunklen Vorkriegskacheln kontrastiert — denke ich, das könnte Pony Hütchen sein. Wer das ist? Kennen Sie nicht Emil und die Detektive, die — nach Erich Kästner — in den dreißiger Jahren das Hotel Metropol am Nollendorfplatz belagerten, um Herrn Müller-Grundeis zu fangen? Während Emils Cousine Pony Hütchen am Bahnhof Zoo vergeblich auf ihren Cousin wartete? Pony Hütchen müßte jetzt ungefähr 75 Jahre alt sein und vielleicht fährt sie ja, auf zitterigen Beinen, immer noch vom Zoo zum Nollendorfplatz. Die Berliner U-Bahn steckt voller Erinnerungen, literarischen und wirklichen. Am Alexanderplatz blickte Döblins Franz Biberkopf hinunter in die klaffende Tiefe, als der Damm aufgerissen wurde, um die U-Bahn zu bauen. Am Mehringdamm stieg Michael Wildenhains Hausbesetzer K.' zitternden Knies in die U-Bahn auf der Flucht vor der Polizei. Und in der Linie 1 pendelte die Heldin des gleichnamigen Bühnenstücks auf der Suche nach dem Märchenprinzen hin und her.

Auch schreckliche Erinnerungen kleben an den Wänden und Gleisen der U-Bahn. »Das ist ein alter Weltkriegsbunker«, stellt ein Freund aus Westdeutschland mit großen Augen fest. Wir befinden uns im militärisch-grauen U-Bahnhof Platz der Luftbrücke, früher: Kreuzberg. Auch im Tunnel-Stummel unter der Hermannstraße bangten während des Krieges Tausende von Menschen vor alliierten Bombern. Dort, wo die Linie von der Leinestraße weiter bis zum S-Bahn-Ring gebaut werden sollte, künden noch heute frakturbeschriftete Schilder davon, wie viele Bunkerplätze dort zugelassen sind. In den kalten Nachkriegswintern wurden dann hier Hunderte von Leichen gelagert, die in der streng gefrorenen Erde nicht begraben werden konnten und die in Krankenhäusern zu kühlen damals es keinen Strom mehr gab. Viele unnütze Bauwerke im Berliner Untergrund zeugen von den Irrtümern und Unterbrechungen der Geschichte des Berliner U-Bahn- Netzes. Der Tunnel-Stummel vom Kottbusser Tor unter der Adalbertstraße gehört dazu. Hier sollte einst die Linie 8 verlaufen, wenn nicht Wertheim am Moritzplatz in den zwanziger Jahren während des Baus erzwungen hätte, die Streckenführung an der Haustür seiner Filiale vorbei zu legen. Oder der unnütze Doppeltunnel an der Deutschen Oper: Hier bauten die Charlottenburger Stadtväter vor dem Krieg auf eigene Faust ein paar hundert Meter Gleis. Oder die Speersche Planung, eine Breitspur-U-Bahn in Berlin einzuführen, auch davon zeugen dem Vernehmen nach verborgene Tunnel unter dem Margaretenplatz in Tiergarten, die nie zum Leben erweckt wurden. Auch Planungen der Nachkriegszeit wurden unterbrochen: So der U-Bahn-Rohbau unter dem ICC, der nie zu Ende geführt wurde. Desgleichen erstreckt sich eine Reihe von Geisterbahnhöfen, Betonrohlingen unter der Haupt- und Rheinstraße, die zur geplanten, nie fertiggestellten Linie 10 von Weißensee nach Lichterfelde hätten werden sollen. Ihretwegen befindet sich ein zusätzliches Gleispaar samt Bahnsteig am Alexanderplatz, dort, wo die Linie nach Hönow beginnt. Ob schon Franz Biberkopf darauf geblickt hat?

Die U-Bahn produziert immerfort Erinnerungen, auch neueren Datums. Die Geisterbahn zum Beispiel. Noch vor wenigen Jahren konnten wir WestberlinerInnen uns kaum etwas anderes vorstellen, als daß die Züge mit gebremsten Tempo ohne Halt unter dem Osten durchschleichen, vorbei an abblätternden Kacheln, funzeligen Neonröhren und unauffälligen, kalaschnikowbewehrten Grenzern. Unvergessen der erste Tag Ende 1989, als der U-Bahnhof Jannowitzbrücke geöffnet wurde, mit unscheinbaren Orientierungshinweisen auf Pappschildern und erst einmal nur für Ostberliner, die sich in Massen auf der Treppe drängten; nach Neujahr auch für Westler. Damals stand ich staunend auf einem real existierenden Bahnsteig, den ich bisher wie im Film betrachtet hatte.

Eines Tages werden unsere U- Bahn-Erfahrungen Geschichte sein für die zeitgenössischen BerlinerInnen. Vielleicht ist im Jahr 2010 die Hochbahn der autogerechten Stadt zum Opfer gefallen. Bestimmt ist der traurige, schmutzige U-Bahnhof Alexanderplatz zu einer glitzernden Boutiquenwelt geworden. Womöglich gibt es parallel zu den stark belasteten U-Bahn-Strecken Schnellbahnen, die nur alle paar Stationen halten. Und unsere Kinder werden vom Gleisdreieck zum »Platz der Einen Welt« fahren — der Name »Mohrenstraße« wird sich nicht halten — und sich daran erinnern, daß auf dieser Strecke Mitte der neunziger Jahre das berühmte Videoclip des Kult-Regisseurs Michael Jackson gedreht wurde. Eva Schweitzer