Erleben, was Klassenkampf wirklich heißt

Bonn (taz) — In einem Interview mit der französischen Tageszeitung 'Le Monde‘ (5.9. 1991) hat Jean Luc Godard einen bislang in Deutschland unkommentiert gebliebenen Vorschlag gemacht, wie das Problem Erich Honecker zu lösen wäre. Ich zitiere: „Die Strafe, die er verdient hätte, wäre, ein Leben lang in einem Trabant eingesperrt zu werden. Der Trabant ist das Allerschlimmste. So war ganz Deutschland — ein reduziertes Modell.“

Der französische Intellektuelle trug mit seinem bösartig-ironischen Vorschlag einer Tatsache Rechnung, die inzwischen den meisten Deutschen dämmert — daß politisches Unrecht sich niemals im nachhinein bewältigen läßt, schon gar nicht juristisch. Man muß sich seinen Vorschlag einmal genauer ansehen, um seine infame Genialität zu erkennen. Gerade im Land von BMW und Mercedes-Benz käme dieser Vorschlag einer absoluten Höchststrafe nahe.

Wie oft mag Erich Honecker wirklich Trabant gefahren sein? Im Trabi auf Deutschland-Tournee würde dem Ex-Diktator vielleicht dämmern, was einzusehen er sich hartnäckig weigert — daß er nicht mitkommt. Spätestens auf der linken Autobahnspur könnte der Uraltmarxist erleben, was Klassenkampf heute in Deutschland wirklich heißt.

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In Godards Vorschlag steckt mehr aufklärerische Brisanz, als man ihm auf den ersten Blick ansieht. Man muß sich nur einmal die menschliche, politische und moralische Herausforderung vorstellen: Erich Honecker, jeden Tag auf einem anderen deutschen Marktplatz! Und wo es keine Marktplätze mehr gibt, täte es auch ein Freizeitpark oder der Parkplatz eines Supermarktes. Honecker im Phantasialand, auf der Domplatte in Köln oder vor dem Brandenburger Tor.

Sollten Land und Leute sich desinteressiert zeigen, schließlich war dieser deutsche Rentner kein sehr begabter Redner, könnte man ihm sein Rest-Leben lang ja Wim Thoelke oder Thomas Gottschalk zur Seite stellen. Für Intellektuelle könnte der Trabi auch schon mal auf einer deutschen Bühne parken. Der Trabi als moralische Anstalt. Der Generalsekretär im Gespräch mit Rolf Hochhuth. Wär' doch was, oder?

Wem diese Form der Vergangenheitsbewältigung zu höhnisch, zu kabarettistisch, zu unernst ist, den könnte man vielleicht für eine Volkserziehungskampagne gewinnen. Etwa eine Deutschland-Tournee im Auftrag der „Bundeszentrale für politische Aufklärung“. Der Trabi kriegt einfach ein paar auswechselbare Schilder aufs Dach, wie man sie von jedem x-beliebigen Pizza-Expreß kennt. Da wären schon ganz hilfreiche Inschriften denkbar. Wie wäre es mit der Parole: „Ihr kriegt mich nie!“ In dem Fall wären beide bestraft, der Trabi-Insasse und das Volk, das erst vor zwei Jahren auf die Idee kam, ihn zu stürzen. Außerdem käme die Parole der Wahrheit sogar ziemlich nahe.

Man könnte dem Publikum die Problematik der juristischen Vergangenheitsbewältigung natürlich auch mit dem Schriftzug verdeutlichen: „Ich bin 80 und habe Krebs.“ Die Menschen würden damit quasi in ihrer Humanität strapaziert. Immerhin gilt Gewalt gegen Kinder und Alte in Deutschland als besonders verabscheuungswürdige Tat.

Nachdenklicher würde vielleicht der Satz wirken: „Ihr wart mein Volk.“ Zugegegen, starker Tobak, aber die Wahrheit tut eben oft weh. Mal sehen, was passieren würde? Natürlich müßte man bei diesen Vorschlägen die Türen des Trabi schon ein bißchen mit Stahlplatten aufmöbeln, und Panzerglas für die Scheiben wäre vielleicht auch angebracht, bei der Volksseele. Ich persönlich glaube kaum, daß der Mann im vereinten Deutschland ohne Polizeieskorte auskäme. Diese Auftritte wären quasi ein demokratischer Härtetest. Ohne ein paar Schrammen am Trabant würde der Fall wohl kaum abgehen. Aber gesetzt, Erich Honecker würde seine Tour unverletzt überleben, hätte sich dann nicht wirklich etwas geändert in diesem Land?

Wem das deutsche Volk für solch eine Art kollektiver Reifeprüfung noch nicht reif zu sein scheint, für den gäbe es noch eine andere Lösung. Die Kultur könnte helfen. Mit großem Etat wird in Berlin das Deutsche Historische Museum eingerichtet. Man sammelt dort seit einigen Jahren sprechende Gegenstände, die von deutscher Geschichte handeln. Könnte man Erich Honecker nicht eine Vitrine einrichten, könnte man Herrn Honecker nicht zum ersten deutschen Live-Exponat machen? Ein sprechendes Objekt wäre er doch zweifellos, und reif fürs Museum war er eigentlich auch schon lange. Wir könnten viel von ihm lernen und viel an ihm über uns.

Es wäre doch denkbar, daß man ihn dazu verurteilen würde, lebenslänglich Erich Honecker zu bleiben und diese Rolle bis an sein Lebensende zu spielen. Damit wäre allen geholfen. Man brauchte nicht auf seine Reue oder Einsicht zu hoffen. Er könnte ruhig starrsinnig bleiben, wie er immer war. Das Ganze sähe auch noch human aus, und die Justizfarce wäre endlich vom Tisch.

Man muß es sich nur konkret vorstellen, um Geschmack an dem Vorschlag zu finden. Das Deutsche Historische Museum kauft die Original-Honecker-Büroeinrichtung auf. Irgendwo steht das Zeug garantiert noch. Honecker bekommt seine alte Sekretärin zurück, seinen Terminkalender, alles so wie es war. Nur ein Unterschied: Sein Büro läge eben im Museum, alle Telefone wären tot, und das Volk hätte täglich von 9 bis 19 Uhr Audienz.

DDR- Bürger vielleicht sogar mit verbilligten Eintrittskarten. Er brauchte sich wirklich nicht zu ändern. Das müßte er eigentlich schaffen. Seine einzige Aufgabe bestünde darin, den Menschen aus seiner Sicht, als deutscher Kommunist, die Geschichte und auch die Geschichte des Scheiterns seines Staats zu erklären. Man könnte ihn ruhig eine Stunde täglich im Radio sprechen lassen oder auf irgendeinem Video-Kanal. Er wäre sozusagen in Volkseigentum überführt. Wie durch ein Wunder wäre er plötzlich ein später Dialektiker. Jemand, der Menschen die Augen öffnen würde, doch ohne seinen eigenen Willen.

Ich bin sicher, er würde uns über uns aufklären und wäre so am Ende seines Lebens doch noch das, was ihm sein Leben lang mißlang. Ein Revolutionär. Jan Thorn-Prikker