Die Schneebälle des Jules Leflêche

5.000 begeisterte Zuschauer bejubelten den phantastischen Sieg der Franzosen im olympischen Demonstrationswettbewerb „Balle de neige“/ Schneeballer der Schweiz im Finale chancenlos  ■ Aus La Lunate Matti Lieske

In einer wundervollen, exakt berechneten ballistischen Kurve fliegt der wohlgeformte, kugelrunde Schneeball durch die Luft und stürzt plötzlich steil nach links hernieder, genau auf den überraschten Eberhard Küchli aus Winterthur zu. Der versucht ein panisches Ausweichmanöver, doch zu spät: die vom französischen Superstar Jules Leflêche mit extremem Linkseffet geschleuderte Kugel streift ihn am linken Ohr und die fünf Kampfrichter schwenken einmütig ihr rotes Fähnchen, um einen gültigen Treffer anzuzeigen. Erzürnt bückt sich der getroffene Küchli, rafft eine Handvoll Schnee zusammen und wirft mit aller Gewalt nach Leflêche. Doch mit solch brachialen Methoden ist dem Lokalmatador nicht beizukommen. Ein eleganter Sidestep bringt ihn aus der Schußbahn, während sein Mannschaftskamerad Lucien Watteau dem nunmehr deckungslosen Schwyzer eine volle Ladung auf die Nase knallt. Sein dritter Schneekontakt, die Kampfrichter schwenken die 10, Küchlis Startnummer — der Schweizer Linksaußen ist ausgeschieden.

Jules Leflêche ist nicht nur Mannschaftskapitän und Seele des französischen Teams, er ist auch der Initiator des „Balle de neige“ und hat in den letzten Jahren keine Mühen gescheut, seinen Sport als Demonstrationswettbewerb der Olympischen Spiele von Albertville durchzusetzen. Die Idee kam ihm, als er den monumentalen Napoleon-Film von Abel Gance aus den zwanziger Jahren sah, in dem der kindliche Korse bei einer Schneeballschlacht im Internat zum erstenmal seine strategischen Fähigkeiten offenbart und seine Mannschaft zu einem triumphalen Sieg führt.

Es war allerdings nicht einfach, seinen Heimatort La Lunate zur Austragung dieser Disziplin zu bewegen. „Kinderkram“, befand der Gemeinderat, den zudem die horrenden Ausgaben für die erforderliche Schneeballarena schreckten. Es bedurfte ausgiebiger Überzeugungsarbeit, bis die Lokalpolitiker den Bau des extravaganten Stadions bewilligten, heute ein Schmuckstück des Ortes. Stilistisch einer Stierkampfarena nachempfunden, bietet es 5.000 Zuschauern Platz und soll in Zukunft für kulturelle Großereignisse wie die althergebrachten Passionsspiele in der Osterwoche und das traditionelle Bockshornjagen im Mai zur Verfügung stehen.

Zuerst waren jedoch jede Menge bürokratische Hindernisse zu überwinden. Die Grünen von La Lunate wandten sich vehement gegen die Verwendung von Kunstschnee und ließen sich auch durch eine drastische Schilderung der verheerenden Auswirkungen des Pulverschnees nicht beeindrucken. Erst das Versprechen, auf dem Vorplatz der Arena einen geräumigen Froschteich einzurichten, konnte sie zum Einlenken bewegen.

Probleme bereitete auch der Kunstschnee selbst. Im Pariser Pasteur-Institut gelang es erst nach mehrmonatigen Versuchsreihen, eine Schneeart herzustellen, die die zum Ballen erforderliche Pappigkeit aufweist, aber dennoch schädelbruchsicher ist. Auch die Entwicklung einer spezialbeschichteten Wettkampfkleidung, an der selbst beim leichtesten Streifschuß genügend Schneepartikel haftenbleiben, um den Treffer nachweisen zu können, konnte erst nach halbjähriger Forschungsarbeit mit befriedigendem Resultat abgeschlossen werden.

Mit unermüdlichem Einsatz räumte Jules Leflêche jedoch alle Hindernisse aus dem Weg, und als in Anwesenheit des IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch die Vorrunde begann, herrschte in der vollbesetzten Arena bei Sonnenschein und exzellenten Schneeverhältnissen Festtagsstimmung. Das Eröffnungsmatch bestritten natürlich die Gastgeber, die wenig Mühe hatten, die Equipe aus Liechtenstein mit 11:0 vom Platz zu fegen. Als der letzte Vertreter aus dem Fürstentum das Feld räumen mußte, hatten die Franzosen noch sämtliche Akteure auf dem Feld.

Wesentlich schwieriger gestaltete sich das Viertelfinale gegen Schweden, wo es zum Eklat kam, als Mittelfeldstar Gunnar Hamrin aus Växjö wegen verbotenen Einseifens disqualifiziert wurde. Die schwedischen Hooligans auf den Rängen konnten sich mit dieser harten Entscheidung nicht abfinden, stürmten das Spielfeld, bemächtigten sich der Schneekanonen und deckten das Schiedsrichtergespann aus Palermo, dem sie geographische Inkompetenz unterstellten, mit mehreren Breitseiten ein. Erst, als der Schnee alle war, ebbte der Tumult ab und die Partie mußte für drei Stunden unterbrochen werden. Mit Neuschnee und neuen Schiedsrichtern ging es schließlich weiter; Frankreich siegte knapp mit 1:0, nachdem Jules Leflêche den gegnerischen Libero Mats Gunnarsson mit einem tückischen Rückhandheber an den Hinterkopf außer Gefecht gesetzt hatte.

Im Halbfinale bekamen es die Gastgeber mit dem Überraschungsteam aus China zu tun, das jedoch durch das wenige Stunden vorher erfolgte Verbot ihrer Spezialtechnik entscheidend geschwächt war. Eine eilig einberufene Sondersitzung der IOC-Schiedskommission hatte die bumerangförmigen Schneegebilde der Chinesen, mit denen sie bei günstigen Windverhältnissen manchmal gleich drei Kontrahenten zugleich ausschalten konnten, für unzulässig erklärt. Erlaubt seien nur Sportgeräte von „einigermaßen runder Form“. Das Aus für China, das sich mit 0:5 geschlagen geben mußte.

Das Finale gegen die Schweiz in Anwesenheit von Fran¿ois Mitterrand wurde schließlich zum Triumphzug für Jules Leflêche. Fünf Gegner beförderte er eigenhändig aus dem Match, zu dreien leistete er die Vorarbeit. Mit 48 Skorerpunkten war er der absolute Topstar des Turniers und vollbrachte sein Meisterstück, als er beim Matchball zum 8:0 den letzten verbliebenen Schweizer mit einem eigens für diesen Zweck bereitgelegten kürbisgroßen Schneetrumm zu Boden rammte. Ihren einzigartigen Erfolg feierten die französischen Schneeballer, humorvoll, wie sie nun mal sind, auf besonders ausgelassene Weise: gutgelaunt deckten sie unter dem Jubel der 5.000 Staatspräsident Mitterrand und seine Leibwächter mit Schneesalven ein, bis diese eiligst in ihrem Hubschrauber flüchteten.

Besonders begeisterte Zuschauer waren die Biathlon-Teams der verschiedenen Nationen, die nun ernsthaft erwägen, im Zuge der Entmilitarisierung ihres Sports künftig, anstatt zu schießen, mit Schneebällen auf die Zielscheiben zu werfen.