Die Stimme des Regisseurs

■ Frank Castorf inszeniert am Deutschen Theater Berlin „Hermes in der Stadt“. Das Stück von Lothar Trolle wird am Sonntag uraufgeführt. Ein Probenbesuch.

Zweimal bin ich zu den Proben gegangen, habe mich stillschweigend in eine der hinteren Reihen gesetzt — und zugehört. Frank Castorf spricht viel. Die Schauspieler gucken blind ins Scheinwerferlicht, wenn ihnen ihr Regisseur aus dem Halbdunkel etwas erklärt. Zu Anfang meint er launisch zu einem Schauspieler: „Baskettballschuhe mag ich nicht“, dann setzt Konzentration ein, das tägliche Marathon beginnt, drei bis vier Stunden Probe, Wiederholung und Koordinierung der Abläufe, Überprüfen der Übergänge, so als würde man ein Band vor- und zurückspulen, in bestimmte Stellen besonders reinhören oder vielmehr reinspringen (die Schauspieler jedenfalls). Arbeit am Detail, und immer wieder die Stimme von Castorf.

Es ist schon seltsam. Auch im Theater heißt es: „Das ist jetzt Theater“ — was keineswegs freundlich gemeint ist. „Zu theaterbesessen“; „Versucht es mit einer privaten Spielweise“; „Es ist besser, sich Zeit zu lassen und aus der Gleichgültigkeit Handlung entstehen zu lassen.“ So oder so ähnlich lauten die Anweisungen des Regisseurs: „Die Nichtberechenbarkeit der Figuren ist das Wichtige“, sagt er. Franziska Hayner, Claudia Geisler und Uwe Dag Berlin haben es schwer an diesem Morgen. Sie müssen gegen den Trabant anspielen, der ihnen von der Requisite wie ein großes Kind untergeschoben worden ist und von dem Castorf später sagt, „dieses Kulturzeugnis ist nicht zu überbieten: Der schluckt wie ein Moloch.“ Das Bühnenbild von Peter Schubert ist ausnahmsweise aufgebaut. Die Drehbühne ist im Einsatz und zeigt abstrakte Häuser- und Straßenfluchten, in orange-rote Farbe und Licht getaucht. „Das wirkt wie DDR-Fernsehspiel“, bemerkt der Regisseur. Er redet nicht heftig, aber schnell, mit Berliner Einschlag. Seine Anweisungen sind klar, enthalten Kritik und Lob im ausgewogenen Verhältnis. Er bleibt im Zuschauerraum, spielt nicht vor, sondern läßt einzig seine Stimme sprechen. Immer wieder erklärt Castorf den Schauspielern, wo die neuralgischen Punkte im Spiel liegen. In dieser Szene jetzt viel Abstand oder gar keinen Abstand halten, aneinanderkleben oder vereinzelt dastehen, bloß nicht die üblichen zehn Zentimeter Höflichkeitsabstand! Schließlich geht es um Jugendliche, die sich langweilen, die sich anöden, die aufeinander angewiesen sind.

Lothar Trolle, ein in DDR-Zeiten selten gespielter Dramatiker, schrieb Hermes in der Stadt 1988. Ein Stück mit einer vollkommen polyphonen Struktur, ein anonymer Chorus, aus einer und tausend Stimmen bestehend. Da sinniert einer über den optimalen Gleichklang des Versmaß, während er eine Anhalterin beklaut, einen Homosexuellen ersticht und einer Frau auf der Toilette einer Bar die Gurgel zudrückt. Der Schauspieler Dieter Mann mimt hier den Erzähler, der galant und mit ironischem Unterton über den Alexandriner referiert und gleichzeitig wie Eduard Zimmermann in XY — in Regenmantel und mit Hut — den Tathergang demonstriert: unbeteiligt. Die komplexe Struktur des Textes, der pluri-monologisch Märchen- und Bibelerzählung, Gerichtsprotokolle und Poesie verdichtet, erlaubt es den Schauspielern, immer wieder aus der Handlung auszusteigen, den Ball abzugeben, erneut einzusteigen. „Den Fernseher haßt ihr“, treibt der Regisseur an, während sich der Erzähler Mann gegen einen Fernseher abmüht. Qua Fernbedienung wird er nun von Claudia Geisler malträtiert: Vorlauf, Rücklauf, Vorlauf, in immer schnellerem Wechsel muß er Alexandriner, Blankvers, Jambus und Hexameter herunterleiern. Dieter Mann absolviert die Sprechkur mit derselben Indifferenz wie die Tatbeschreibungen, und leicht lächelnd schwenkt er seinen Hut, als er sich aus der Erzählerrolle verabschiedet. „Gen Kantine“, flachst der Regisseur. „Ich hör mir ja gerne alles an“, kontert Mann, „aber ich bin kein Kantinenschauspieler.“

Das war der zweite Probenbesuch fünf Tage später, und alles wirkt, so kurz vor der Premiere, viel unfertiger als beim ersten Mal. Das Bühnenbild ist wieder in die Werkstätten abtransportiert worden, und auch der Trabi ist verschwunden. Rausgeschmissen, bis zur Generalprobe wird gnadenlos geändert. „Das wäre Kinder- und Jugendtheater geworden“, erklärt Frank Castorf, „das Auto zieht die Schauspieler in einen Sumpf.“ In der Schlußszene terrorisieren die Jugendlichen ein Kind per Telefon und treiben es in den Selbstmord. Ruhigere Töne sind angebracht als dieser grausliche Märchengeschichten ausspuckende Trabant. Leer stand er auf der Bühne, und wie von unsichtbarer Hand bewegt setzten sich ein Blinker und die Scheibenwischer in Bewegung, klapperte leise der Deckel des Kofferraums. Castorf: „Vielleicht ginge das in der Oper. Ansonsten reduziert man die Szene auf einen Kabaretteffekt, bei der man nicht mehr zu einer anderen Ernsthaftigkeit kommen kann.“ — Wie lange haben sie so mit der Szene gearbeitet? — „Lange“, sagt er, „aber das ist nicht schlimm. Irgendwann muß man sich nur entscheiden, was man will.“ Sabine Seifert