Jelzins Vize organisiert die Alternative

Alexander Rutskoi ist zu einer treibenden Kraft für eine konservative Politik in Rußland geworden, die zwar weder den Stalinismus renovieren noch den Nationalismus schüren, den Übergang zur Marktwirtschaft jedoch autoritär gestalten will  ■ Aus Moskau Klaus H. Donath

„Damit der Regierung dieser Artikel verständlich wird, bitte ich den Präsidenten nochmals, allen (Regierungsmitgliedern) das Gehalt auf 342 Rubel festzusetzen.“ Diese „unerhörte“ Forderung stand am Ende eines 'Prawda‘-Beitrages, der kürzlich die Wirtschaftspolitik der russischen Regierung einer schonungslosen Kritik unterzog. Als Autor zeichnete ein gewisser Alexander Rutskoi. Auf einem Kongreß der „Bewegung Bürgerpatrioten“ wurde der Generalmajor noch schärfer: Mit der Freigabe der Preise betreibe Jelzin einen systematischen „Genozid am Volk“. Um die Wirtschaft wieder ins Lot zu bringen, forderte er die sofortige Verhängung des wirtschaftlichen Ausnahmezustandes für die Dauer eines Jahres.

Rutskoi steht mit seiner Meinung nicht allein. „Aufgeklärte“ Kader des alten Staatsapparates, der KPdSU und des militärisch-industriellen Komplexes stimmen ihm zu. Doch noch gehört der ehemalige Kampfflieger zum Team des Präsidenten: Er ist sein Vizepremier. Bei den Präsidentschaftswahlen im Juni letzten Jahres erkor Jelzin Rutskoi zu seinem Vize, da der moderate Kritiker der KPdSU-Linie Stimmen aus dem konservativen Lager mitzubringen versprach. Seit Dezember herrscht zwischen den beiden Krieg. Die „Mitgift“ aus Armee und Rüstungsindustrie entpuppt sich als Danaergeschenk.

Graue Eminenzen diskutieren Dritten Weg

Um Rutskoi sammelt sich ein oppositioneller Kreis grauer Eminenzen, der auf ein baldiges Scheitern Jelzins setzt, wenn nicht gar aktiv darauf hinarbeitet. Er präpariert sich für den TagX, um als „dritte Kraft“ das Ruder in die Hand zu nehmen. Seit Herbst treffen sich einflußreiche Kreise der Chefetagen der Rüstungsindustrie, der alten KPdSU, des aufgelösten Ministerrates der UdSSR und des Militärs auf ihren Moskauer Vorstadtdatschen, um wieder einmal ein Rettungsprogramm für Rußland zu entwerfen.

Nicht ganz zufällig fand der Kongreß der patriotischen Kräfte unter dem gleichen Motto statt: „Wie ist Rußland zu retten?“ Eine breite Palette politischer Gruppierungen und Parteien hatte sich eingefunden. In ihrer Selbsteinschätzung repräsentieren sie das „Mitte-rechts-Spektrum“ des heutigen Moskau. Im Vergleich zur neugegründeten „Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei“ (RKAP) und der antisemitischen Gruppe „Pamjat“, klangen nationalistische Töne hier nur verhalten an. Nicht immer ließen sie sich vermeiden, denn der gemeinsame Schmerz über Rußlands verlorengegangene Großmachtrolle einte die Versammelten. Doch man hütete sich, Assoziationen an das alte totalitäre Regime zu wecken. In Rutskois Rede und dem langen Beitrag in der 'Prawda‘ entwickelt Rutskoi sehr konkrete wirtschafts- und ordnungspolitische Vorstellungen. So gelte es, die positiven Traditionen des „russischen Unternehmertums“ wieder zu beleben.

Rutskois Strategie läuft auf ein autoritäres Entwicklungsmodell hinaus: Liberalisierung der Ökonomie bei gleichzeitiger Reduzierung von Reibungsverlusten, die die politische Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft begleiten, ein starker zentraler Staat soll Modernisierungsadministrator sein. Die Notwendigkeit, das System zu ändern, wird nicht bestritten. Bosse der einflußreichen Rüstungsindustrie hofieren ihn. Arkadi Wolskij, Präsident des „Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes“, gehört zu seinen engsten Vertrauten. Neben den Bossen der größten Staatsbetriebe zählt er auch eine Reihe Rüstungswissenschaftler zu seinen Mitgliedern.

In der 'Prawda‘ machte sich Rutskoi gerade für die Interessen dieses Komplexes stark. Er soll bei der Modernisierung eine tragende Rolle spielen. Der Vorsitzende des Staatskomitees für Konversion, Baschanow, verkündete vor kurzem, die Rüstungsindustrie habe noch im letzten Jahr eine Planerfüllung zwischen 99 und 108Prozent erreicht. Phänomenal — eingedenk eines dreißigprozentigen Rückgangs in der Zivilproduktion. Abrüstung und Zerfall des Zentralstaates bedrohen nun aber auch dessen Existenzfähigkeit. Abermillionen von Beschäftigten, bisher Nutznießer des Systems, könnten ihre Arbeit verlieren. Sechzig Prozent aller großen Werke in Rußland unterstehen diesem Komplex. Mit so einem Heer im Rücken läßt sich die Macht erobern. Das wissen auch die Rüstungszaren.

Rüstungsindustrie als Vorbild im Chaos

Doch Rutskoi baut nicht auf offene Konfrontation. Er will vielmehr einen Interessenausgleich bewirken. Das „wesentliche wissenschaftlich- technische Potential des Fortschritts in Rußland“ dürfe nicht brachliegen, argumentiert er. Die jetzige Regierung habe dieses Potential dagegen zu einem Feindbild stilisiert. Die Rüstungsbosse hören das gern. Trotz ihrer relativ hochwertigen Produkte verkörpern sie in Wirklichkeit kein leistungsfähiges System. Doch im Falle eines Machtwechsels könnten die noch intakten Strukturen dieses Komplexes den Eindruck von Arbeitsfähigkeit und Effektivität vermitteln, die sich vom vorangegangenen „Chaos“ wohltuend abheben. Rutskoi sieht im Rüstungspotential eine Hauptquelle zukünftiger Deviseneinnahmen. Die Militärs dürften sich so gleichermaßen zufriedenstellen lassen, denn es sichert auch ihre Existenz.

Die autoritäre Variante gesellschaftlicher Modernisierung hat gerade in der verunsicherten Intelligenz Wurzeln geschlagen. Immer wieder tauchen in den Moskauer Diskussionen die Vorbilder Chile, Taiwan oder Südkorea auf. Die autoritäre Vergangenheit Rußlands hält genügend historische Argumente für einen Schleichweg zur Demokratie parat. Natürlich wird der russische Nationalismus nicht zu kurz kommen. Er wird die sozialen Friktionen kompensieren müssen.

Rutskoi allerdings ist nicht der Mann der Zukunft. Sein Gesundheitszustand läßt es nicht zu. Eine ihrer Schlüsselfiguren aus dem militärisch-industriellen Komplex könnte Arkadi Wolskij sein. Die Regierung Rußlands jedenfalls steht und fällt mit der Figur Jelzins.

Ihr fehle „politisches Hinterland“, warnte Präsidentenberater Burbulis. Im Falle seines Scheiterns besitzt der „aufgeklärte Totalitarismus“ eines „dritten Weges“ am meisten Aussicht auf Akzeptanz: Immerhin, mehr als die Rückkehr zum Kommunismus oder die braune Diktatur ist das allemal.