Noch immer mit Kriminellen in einem Topf

Weil sie ausreisen wollten, wurden ein Vater und seine Tochter von der Stasi terrorisiert und ins Zuchthaus gesteckt/ Jetzt wurden sie rehabilitiert, doch die Täter bleiben unbehelligt/ „Unrechtsbereinigungsgesetz“ nur ein Almosen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Am 3. Dezember 1989 beginnt für Birgit und Jürgen Schlicke aus Weißwasser bei Cottbus ein neues Leben. Birgit holt in Rottweil das Abitur nach, studiert heute Amerikanistik in Tübingen. Der Vater Jürgen wird erst Berater, später Geschäftsführer der „Christallerie“ in Oberursel. Jetzt müssen die Erinnerungen sortiert, die Vergangenheit „bewältigt“ werden. Verzeihen können sie nicht. Denn hinter ihnen liegen Zuchthausjahre, Stasifolter, Psychoterror, ein zermürbendes Sammelsurium von Repressionen, nur mit einem Ziel: zwei Menschen zu zerbrechen und mit ihnen eine ganze Familie.

Die ganze Leidensgeschichte beginnt vor vier Jahren. Am 8. Oktober 1985 stellt Jürgen Schlicke für sich, seine Frau, die drei Kinder einen Ausreiseantrag. Die Begründung: keine Perspektive in der DDR. Was folgt, sind erst die Streicheleinheiten. Man führt Gespräche, verspricht eine Lohnerhöhung, eine Beförderung wird in Aussicht gestellt. Als alles nichts fruchtet, wird die Schraube angedreht. Die Familie soll dort getroffen werden, wo sie am empfindlichsten ist, bei den Kindern. Im Auftrag der Stasi soll Birgits Klassenlehrerin die 16jährige überreden, sich von den Eltern zu trennen. Als Belohnung winken Wohnung und Studienplatz. Es sind erfolglose Bemühungen. Die Strafe folgt auf dem Fuß. Mitten in einem Lehrgang über „Sozialistische Wehrerziehung“ erscheint der Rektor. „Packen Sie Ihre Sachen“, sagt er, „ein weiterer Schulbesuch ist für die DDR nicht ökonmisch“.

Gegen den Bildungsentzug protestiert Vater Schlicke mit vielen Eingaben — erfolglos. Er kann nicht verhindern, daß die Familie immer mehr isoliert wird. „Auch wenn es wie Faschismus aussieht“, sagt der FDJ-Sekretär, „es ist nicht so.“ Im Jahr 1987 schreibt Jürgen Schlicke Briefe — an Gorbatschow, an die UNESCO, an Honecker und Volkskammerpräsident Sindermann und an die „Internationale Vereinigung für Menschenrechte“ (IVfM) in Frankfurt/Main. Als sich nichts rührt, gründet er für Ausreisewillige einen „Freundeskreis für Stadtwanderer“. Die Freunde organisieren Schweigemärsche, erst in Weißwasser, einen zweiten in der Kreisstadt Cottbus. Die Stasi ist dabei und schlägt nach der dritten „Stadtwanderung“ zu.

Ende Februar 1988 wird Jürgen Schlicke von der Straße weg verhaftet und in die Stasi-U-Haft nach Cottbus gebracht. Sein Versuch, ein mitgeführtes Schreiben an die IVfM zu verschlucken, mißlingt. Dies wird ihm später zum Verhängnis. Am 2. März 1988, zwei Tage nach Birgits 19. Geburtstag, nimmt die Stasi auf einem Postamt auch sie fest. Sie kommt in das gleiche Gefängnis wie ihr Vater. Sie weiß es nicht. Ihr einziges „Vergehen“ ist, daß sie den Brief ihres Vaters an die IVfM auf ihrer Reiseschreibmaschine „Erika“ abgetippt hat. Es folgen nächtliche Verhöre, entwürdigende Leibesvisitationen, Kontaktsperre. Sechs Monate lang sitzen die beiden in der Untersuchungshaftanlage des MfS und leiden physisch und psychisch. Der Vater bekommt Herzbeschwerden, magert stark ab. Der Tochter fällt das Haar aus, Erstickungsanfälle rauben ihr fast das Leben.

Im August 1988 ist der Prozeß. Verteidiger ist der Stasi-Spitzel Wolfgang Schnur. Drei Tage später wird das Urteil gefällt. Vater Schlicke erhält wegen „landesverräterischem Treuebruch“, viereinhalb Jahre Zuchthaus, Tochter Schlicke wegen Beihilfe zweieinhalb Jahre. Er kommt in das berüchtigte Zuchthaus Brandenburg-Goerden, sie in die schlimmste Frauenhaftanstalt der DDR, auf die Burg Hoheneck in Thüringen. Er teilt seine Zelle mit drei Mördern, leistet Zwangsarbeit für das VEB-IFA Kombinat, auch dies unter Aufsicht von Mördern. Weil es in der DDR offiziell keine politischen Gefangenen gibt, wird er behandelt wie ein Schwerverbrecher. Auch die junge Frau. Sie ist die Jüngste im ganzen Zuchthaus. Die 30 Quadratmeter große Zelle teilen sich zehn Frauen, auch unter ihnen Mörderinnen. Mehrfach wird Birgit beinahe von ihnen vergewaltigt. Einmal wöchentlich dürfen sich die Frauen duschen, drei Briefe darf sie im Monat schreiben, alle sechs Monate darf sie für eine Stunde ihre Mutter sehen. Fernsehverbot, Entzug des Weihnachtspäckchens, Einkaufsreduzierung, Schikanen, die im brutalen Mikrokosmos Zuchthaus einen Menschen zerbrechen können, muß Birgit aushalten. Dazu näht sie im Dreischichtsystem Bettwäsche für den VEB Planet. 287 Bettbezüge pro Schicht sind die Norm, die Ware ist für das devisenträchtige Exportgeschäft bestimmt.

Nach sechs Monaten U-Haft und 15 Monaten Zuchthaus kommen die beiden Ende November 1989 frei. Ohne die Wende und die darauffolgende Amnestie würden sie heute noch sitzen. Vor vier Wochen wurden sie vom Bezirksgericht Cottbus rehabilitiert. Das Urteil sei „rechtsstaatswidrig“ gewesen, die erlittene Haftzeit müsse entschädigt werden.

Nach dem „SED-Unrechtsbereinigungsgesetz“, das der Bundestag im Sommer beschließen will, haben beide Anspruch auf eine Entschädigung von 450 Mark pro Haftmonat, das sind 9.450 Mark für jeden. Weil das Gesetz keinen Unterschied zwischen politischen und kriminellen Häftlingen macht, ist es vorstellbar, daß die EssensausteilerInnen und ArbeitsaufseherInnen von Brandenburg und Hoheneck ebenfalls eine Haftentschädigung erhalten. Nämlich dann, wenn das DDR-Urteil schärfer ausgefallen war, als das gleiche Delikt in der alten Bundesrepublik bestraft worden wäre. Es sei schon schlimm genug, sagen die Schlickes, daß von den damaligen Verantwortlichen keiner bisher zur Rechenschaft gezogen wurde — Lehrer und Rektor üben weiter ihre Berufe in Weißwasser aus, Richter und Staatsanwalt sind pensioniert, die Stasiisten unbekannt, und Anwalt Schnur betreibt eine Kanzlei in West- Berlin — aber unerträglich sei es, daß sie durch das Unrechtsbereinigungsgesetz mit Kriminellen in einen Topf geworfen werden sollen. Und dies zum zweitenmal und dies erst recht, solange die Repressionsopfer nicht generell politisch rehabiliert, sondern nur mit diesem gleichmacherischen Almosen abgespeist werden.