Zerfall der Sowjetarmee unabwendbar

Beim GUS-Gipfel war eine Einigung nicht in Sicht/ Vier Republiken verhandelten gar nicht erst über eine „GUS-Armee auf Übergangszeit“/ Nasarbajew legt einen lauen Kompromißvorschlag vor  ■ Aus Moskau Klaus H. Donath

Präsident Nursultan Nasarbajew aus Kasachstan ist ein Schlitzohr. Zwei Stunden hatten die Republikchefs der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) bereits ergebnislos über die Tagesordnung ihres Minsker Gipfels gestritten, da spielte er eine vermeintliche Trumpfkarte aus. Um der aussichtslosen Streiterei über ein gemeinsames Heer und einen einheitlichen Oberbefehl der ehemaligen Sowjetrepubliken ein Ende zu machen, schlug er vor: Jeder der elf Staaten baut seine eigene Armee auf und überführt das Eigentum der Sowjetarmee auf seinem Territorium in eigenen Besitz und unterzeichnet einen Nichtangriffspakt. Wer mehr will, schließt sich mit Gleichgesinnten zu einer Verteidigungsunion zusammen. Die ersten Reaktionen sollen positiv gewesen sein. Vor allem der ukrainische Präsident, der entschiedenste Gegner militärischer Kooperation mit Rußland, soll den Vorschlag begrüßt haben. Doch das muß nicht unbedingt etwas heißen. Nach Aussagen von Beobachtern sehen die Chancen für eine Einigung so trübe aus — wie Minsk, die Hauptstadt der neuen „Gemeinschaft“.

Die Delegationen der Ukraine, Weißrußlands und Aserbaidschans nahmen an Vorverhandlungen einer parallelen Arbeitsgruppe, die sich mit der Einrichtung einer „GUS-Armee auf Übergangszeit“ befaßte, gar nicht erst teil. Schon dies war ein Kompromißkonzept, das auf die Dauer von zwei Jahren begrenzt war. Ein andere Variante ging von elf Einzelarmeen und einer zusätzlichen GUS-Armee aus. Auch die kleine Republik Moldawien besteht auf ihrem eigenen Heer. Rußland dagegen möchte mit allen Mitteln einheitliche Streitkräfte bewahren.

Einigung erzielten die Staatspräsidenten lediglich über die gemeinsame Verantwortung für das Nuklearpotential. Aber auch hier beklagte sich Weißrußland, Moskau würde den Abzug der Nuklearwaffen ohne Rücksprache mit Minsk betreiben.

Furcht vor russischer Hegemonie

„Einheitliche Streitkräfte können nur in einem einheitlichen Staatswesen existieren“, wiederholte Krawtschuk die mittlerweile bekannte Position Kiews. Eine gemeinsame Armee sei eine Bedrohung der Demokratie in der Ukraine. Kiew fürchtet, Rußland werde versuchen, über einen letzten „gemeinsamen Nenner“ längerfristig den Prozeß der Unabhängigkeit wieder zurückzuschrauben. Die Angst ist nicht unbegründet. Denn der Verlust des „historischen Stammlandes“ hat man in Moskau unabhängig von politischer Couleur noch nicht verkraftet. Soeben unkte der russische Vizepremier Alexander Rutskoi, er könne sich die Wiederherstellung der staatlichen Einheit der alten UdSSR durchaus vorstellen.

Die Ukraine baut zur Zeit ihr Heer schon auf. Bis zum 1.Juni müssen alle Soldaten und Feldwebel, die nicht aus der Ukraine stammen, das Land verlassen. Schon unterwegs sind unterdessen sechs russische Flugmannschaften aus der Ukraine mit dem Zielflughafen Moskau. „Die Flugzeuge brachten keine Waffen mit, dafür aber das Banner ihres Regiments“, sagte ein Sprecher. Die Soldaten wollten keinen Eid auf die Ukraine leisten.

Der Kleinkrieg zwischen den beiden größten slawischen Staaten ist längst im Gange. „Wenn Rußland nicht nachgeben will, wird es die Ukraine erdrosseln. Rußland ist dazu in der Lage... aber wir beide werden sterben. Rußland einen Tag nach uns“, kommentierte Krawtschuk das derzeitige Verhältnis. Die Frage um das Potential der Schwarzmeerflotte wird in Minsk nicht verhandelt. Dem wollen sich die beiden Staaten gesondert untereinander widmen. Nur als allerletzte Möglichkeit werde Rußland eine eigene Armee aufbauen, hieß es aus Moskau. Natürlich vermeidet Rußland, um den Bruch nicht noch zu forcieren, Gerüchte um den Aufbau einer eigenen Armee. In einer Umfrage der Armeezeitung 'Krasnaja Swesda‘ sprachen sich 67 Prozent der Offiziere für den Erhalt eines gemeinsamen Heeres aus, lehnten Einzelarmeen jedoch nicht ab. Protest meldete auch Aserbaidschan an, das sich mit dem Nachbarstaat Armenien seit langer Zeit in einem zermürbenden Guerillakrieg befindet. Der Kaukasus-Staat beklagte sich, die noch in Aserbaidschan stationierten Sowjettruppen würden systematisch Waffen vernichten. Panzer seien über Hunderte von Kalaschnikows gerollt, um sie zu zerstören. Aserbaidschan führte seine angeblich hohen Verluste im Kampf mit armenischen Freischärlern auf Moskaus Sabotage zurück.