Die Unvernünftigen sterben aus

Die Unvernünftigen sterben aus

Vielleicht ist das Ganze ja nur ein kurzer, verrückter Traum, diese Kinolandschaft in Berlin, die mit der Vielfalt der unterschiedlichsten Filme der Einfalt des Immerselben zu trotzen sucht.

Im »Broadway«, »Delphi« oder »York«: die neuen Arbeiten der großen europäischen Autoren — von Angelopoulos, Kaurismäki, Kieslowski, Rohmer, von Thome und Wenders. Im »Arsenal«: das Experimentelle und Politische. Im »Notausgang«: Lubitschs Oeuvre, wieder und wieder. Im »Filmkunst 66« oder »Moviemento«: ältere Genrefilme, drei Western in zwei Tagen etwa, über fünf Monate lang. Im »Sputnik« oder »Xenon«: Außenseiterfilme — Entlegenes, Vergessenes, Provokantes. Und dazwischen immer mal wieder, im »Graffiti«, »Klick« oder »Steinplatz«: deutsche Filme, die noch erzählen von ihrem Land und ihrer Zeit, Filme von Wolfgang Becker, Nina Grosse oder Nico Hoffmann, von Uwe Janson, Michael Klier oder Jan Schütte.

Das Konzept, in den Sechzigern entwickelt und in den Siebzigern weiter ausgebaut, war ja gegen das Übliche, das Gängige gerichtet — gegen die Boulevard- und Protzkinos und ihre triviale Massenware. Die Strategie war, auf der einen Seite Filme zu zeigen, die schöne Geschichten erzählten, mit festen Regeln fürs Erzählen und der Lust daran, diese Regeln spielerisch zu erweitern; auf der anderen Seite neue Filmstile und poetische Visionen zu präsentieren, um darüber den Blick auf die Welt zu verändern.

Mitte der siebziger Jahre wollten die Kinomacher damit Berlin zum Mekka des Films erheben. Möglichst viele Nuancen der magischen Licht- und Schattenzauberei sollten gleichzeitig präsent sein. Auf daß die Kinos insgesamt ihr alltägliches Filmfest feiern könnten.

Dieses Konzept zielte auch auf eine pädagogische Utopie. Immer mehr und immer andere Filme anzubieten sollte so viele Zuschauer wie nur möglich fürs Kino öffnen, ihren Blick schärfen und ihren Geschmack entwickeln. Die Qualität sollte Lust machen auf noch bessere Qualität. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Sicher, interessierte Zuschauer konnten im Lauf der Jahre ihr filmisches Gespür sensibilisieren. Die Massenwirkung aber blieb aus. Statt immer mehr Zuschauer gibt es nun immer mehr Filme, die niemand sehen will.

War also alles wirklich nur ein Traum? Der Anspruch der Kinomacher ist sicherlich noch da. Was aber immer stärker fehlt, ist die schöne Unvernunft, gegen alle Regeln an ungewöhnlichen Filmen festzuhalten. Zum einen, weil die Zuschauer ausbleiben, die solchem »Programm« mit Lust und Laune noch zu folgen bereit sind. Die besten Filme nutzen ja nichts, wenn sie in leeren Sälen bloß vor sich hinflimmern. Zum anderen aber auch, weil die Filme mit der Zeit die Qualität nicht hielten, die anzustreben sie versprachen. Zu viele sind einfach nur gut gedacht — und schlecht gemacht. Vielleicht sollte doch nicht jeder, der eine interessante Idee für einen Film hat, diesen Film auch machen.

Inzwischen haben die Berliner Kinomacher der Off-Ku'damm-Szene viele ihrer Hoffnungen begraben müssen. Die Tendenz ist eindeutig: Immer mehr Filme werden für immer weniger Zuschauer gedreht. Immer mehr Zuschauer begnügen sich mit immer weniger Filmen, die meisten mit Fast food-Ware aus Hollywood (worunter auch die phantasievolleren Filme aus Hollywood leiden). Also fügen sich öfters, wenn auch nicht ganz und gar, sogar die Filmkunstkinos ins Unvermeidliche.

So drängen selbst in die letzten kinophilen Nischen die großen Verkaufsschlager. Die Unvernünftigen sterben aus. Manchmal, was schön ist, sieht man noch den Bezug zu früher (wenn schon Hits aus Hollywood, dann die mit stilsicherer Handschrift — die von Demme, Kasdan, Rudolph). Manchmal allerdings, inzwischen immer häufiger, verkümmern auch die alten Programmkinos zu weiteren »Abspielstätten« des immer selben Films — neben den sechs, sieben um den Ku'damm herum.

Dr. Norbert Grob ist Filmhistoriker. In der taz-Rubrik »Stadtmitte« schreiben Berliner Persönlichkeiten zu den Problemen der zusammenwachsenden Stadt